Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
wollte wissen: »Hast du Daisy gesagt, sie soll das machen?« Was echt bizarr war, weil Django nie viel sagte, und wieso sollte Jake Daisy sagen, sie sollte so was machen?
»Nein«, antwortete Jake.
»Mein Cousin in New Jersey hat’s gesehen«, sagte Django. »Der hat mir den Link geschickt.«
Da wurde Jake schon ein bisschen schlecht. Vielleicht sollte er sich bei der Schulschwester melden und dann nach Hause gehen?
»Mir ist ein bisschen schlecht«, sagte Jake, an gar niemanden gerichtet. Und niemand sagte was.
Nach der Turnstunde rannte Jake, ohne zu duschen, zum Geschichtsgebäude hinüber. Heute hatte er nach der Schule Basketballtraining, und an solchen Tagen schenkte er sich oft das Umziehen. Noch in den Wildwood-Sportklamotten betrat er das Gebäude. In der Glasscheibe der Eingangstür sah er sein Spiegelbild und las das Wildwood Wildcats auf dem T-Shirt spiegelverkehrt. Es steckte also tatsächlich er selbst in seinem Körper, obwohl er sich wie ein Schwindler und Betrüger vorkam.
»Der letzte Dreck«, flüsterte ihm ein unbekanntes Mädchen direkt ins Ohr, als er ihr die Tür aufhielt. Er fuhr fast aus der Haut vor Schreck. Meint die mich?, dachte er. Er schaute dem Mädchen auf dem Korridor hinterher und kam einfach nicht drauf, wer sie war … ein braunhaariges Mädchen mit Pferdeschwanz und ärmellosem Oberteil. Woher weiß die, wer ich bin?, überlegte er.
Ein paar Kids hinten im Klassenzimmer kicherten, als er hereinkam.
»Hoho, Casanova«, rief einer, er hieß Eli, laut herüber. Die Mädchen kicherten. Karenna Mercer sagte: »Wann machst du denn ein Video für Daisy? Du weißt schon, die Jungs-Version …«
»Die Rubbel-Version?«, kam es von Eli. Alles lachte.
Warum?, fragte sich Jake. Sollte das ein Witz sein?
Dann betraten Ms Hemphill und Ms Schwartzman, seine beiden Geschichtslehrerinnen, den Raum. Ms Schwartzman war hochschwanger, und manchmal konnte man das Baby unter ihrer Bluse strampeln sehen, wie einen Außerirdischen, als wollte es gleich rauspurzeln. Ab und zu machte sie »Oooh«, wenn ihre Bluse vorn hochhüpfte, und dann kreischten ein paar Mädchen auf.
»Jetzt beruhigt euch mal alle«, sagte Ms Hemphill. »Karenna, wir hören jetzt also dein Referat über Alexis de Tocquevilles Einsichten zur gesellschaftlichen Situation, die er in seinem Werk Über die Demokratie in Amerika dargelegt hat.«
Jake entspannte sich allmählich, während Karenna ihre Notizen zusammensuchte. Solange sie langatmig daherlaberte, konnte er die ganze Unterrichtsstunde über vor sich hin dämmern und danach vielleicht doch noch bei der Schulkrankenschwester vorbeischauen. In dem Moment ging die Klassenzimmertür auf, und die stellvertretende Direktorin, Ms Rodriguez, trat ein.
»Ich komme wegen Jacob Bergamot«, sagte sie, und einen bizarren Augenblick lang überlegte Jake, ob sein Vater vielleicht einen Herzinfarkt gehabt hatte? Denn weshalb sonst sollte die stellvertretende Direktorin nach ihm verlangen? Aber das war natürlich nicht der Grund, das war ihm klar, als er seine Bücher und seinen Rucksack einsammelte und, immer noch im Basketball-Outfit, Ms Rodriguez und ihren klackenden Absätzen aus dem Klassenzimmer folgte, die heißen Blicke seiner Klassenkameraden wie achtzehn Laserstrahlen auf ihn gerichtet. Sein Herz schlug ihm wie wild bis zum Hals, und ihm war, als könnten die anderen Kids direkt durch die Haut auf seinen umgedrehten Magen schauen. So ähnlich wie bei der Kuh mit dem Plastikfenster an der Flanke, die er als Kind auf einer der alljährlichen Ausstellungen der Landwirtschaftlichen Fakultät in Ithaca gesehen hatte – eine anschauliche Darstellung ihres Verdauungssystems. Ms Rodriguez war wegen Daisy gekommen, wegen Daisy und ihres Videos. Das wusste jeder. Jeder wusste, dass es irgendwann so weit sein würde, außer Jake, der sich etwas vorgemacht hatte. Dass er tief in der Scheiße steckte, war deutlich. Es war an Ms Rodriguez’ Miene abzulesen, als sie ihn aus dem Klassenzimmer abführte, und an der Art, wie ihn alle anglotzten, als hätte er ein Bullauge an der Flanke, als könnten sie sehen, wie seine Eingeweide zermalmt wurden.
Die Bibliothekarin der Oberschule hatte das Video entdeckt, als sie einem Mädchen über die Schulter geschaut hatte, die vor einem der schuleigenen Computer saß. Das reichte. Jake wurde in der dritten Stunde aus dem Geschichtsunterricht gerissen, und Henry, McHenry, Davis und Django aus Chemie beziehungsweise Mathe. Um die Mittagsstunde
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