Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
war Jakes Mutter auf dem Weg zur Schule und er selbst bereits relegiert. Sein Vater war in einer wichtigen Besprechung und konnte nicht gestört werden.
Dies alles erfuhr er im Büro des Schulleiters, Mr Threadgill. Mr Threadgill schien es förmlich zu genießen, Jake vor der Ankunft seiner Mutter mitzuteilen, in welch misslicher Lage er sich befand. Allerdings wartete Threadgill ab, bis Jakes Mutter eintraf, um das Video einzulegen. Der Kerl war beinahe kahl, trug aber einen Spitzbart, wie um den spärlichen Kopfhaarwuchs mit Kinnhaar wettzumachen. Es erinnerte an Schamhaar, fand Jake, Schamhaar in Threadgills Gesicht unter der kleinen, vor unterdrückter Wut bebenden Nase und rund um seine Lippen, die allzu rot waren, wie der Anus eines Affen. Er trug Hemd und Krawatte, aber kein Sakko, als wäre es ihm in seinem Büro zu hitzig, und er hätte sein Tweedsakko über die Rückenlehne seines Stuhls werfen müssen. Jakes Mutter trug Rock und Twinset, eine Aufmachung, in der er sich nicht erinnern konnte, sie jemals gesehen zu haben. Rosa Oberteil, darunter cremefarben. Wie eine adrette Vorstadtmami im Fernsehen war sie angezogen.
»Jake!«, rief sie, als hätte sie ihn soeben im Krankenhaus in der Notaufnahme entdeckt, als läge Jake an eine piepsende Maschine angeschlossen auf einer Tragbahre, dabei saß er bloß auf einer Holzbank vor Threadgills Büro und wartete auf sie. Der Schulleiter expedierte ihn in ein Besprechungszimmer, wo er allein sitzen bleiben sollte, während Jakes Mutter über den Vorfall in Kenntnis gesetzt beziehungsweise eingeschüchtert wurde – was immer ihm passte. Jake wartete eine halbe Ewigkeit auf dieser Bank. Durch das Guckfenster in der Tür des Besprechungszimmers konnte er Henry und seine Mutter vorbeigehen sehen.
Dann wurde er endlich von Threadgills Sekretärin hereingerufen, und als er wieder ins Büro des Schulleiters kam, sah er, dass seine Mutter geweint hatte. Sie hatte rote Augen und eine rosa Nase. In der Faust hielt sie ein zusammengeknülltes Papiertaschentuch, mit dem sie sich immer wieder die Nase abtupfte. Sie sah Jake nicht in die Augen, als er hereinkam.
»Setz dich«, sagte Threadgill, auf den leeren Stuhl deutend, der gegenüber von Jakes Mutter an der Wand lehnte. Jake bemerkte, dass Threadgills linkes Bein zitterte.
Er rückte den Stuhl von der Wand weg und stellte ihn dicht neben den seiner Mutter.
»Jacob, ich wollte, dass deine Mutter sich das in deiner Gegenwart anschaut«, sagte Threadgill. Er sagte es sehr bestimmt, als wäre er sich sicher, dass er das Richtige tat. Dann schwenkte er seinen Computermonitor so herum, dass alle drei auf den Bildschirm sehen konnten, und rollte seinen eigenen Stuhl etwas zurück. Mit dem langen schwarzen Ziehharmonikahals und dem breiten weißen Monitor sah der Computer ein bisschen aus wie E.T., fand Jake. (Sein Vater hatte E.T. auf Netflix bestellt. Coco war begeistert gewesen, aber Jake hatte den Film zu traurig gefunden und sich in sein Zimmer verzogen.) Dann drückte Threadgill, selbstgefällig und plump und schwer bemüht, unter seinem Bart keine Miene zu verziehen, auf die Abspieltaste.
Und da war es: Daisy. Die Pickel auf ihrer Wange. Die Ohrringe an ihrem Ohrläppchen, das scheußliche, gefärbte Haar. I love to love you, baby. Beyoncé. Jake wusste, was nun gleich als Nächstes kam. Daisy und ihr Sextanz. Mit Jakes Mom und Threadgill im Raum. Daisy, wie sie ihren Rock hochhob. Daisys Vagina.
Er konnte gar nicht auf den Bildschirm schauen. Und er konnte seine Mutter nicht anschauen. Er würde sterben, glaubte er, wenn er das Gesicht seiner Mutter sähe. Also konzentrierte er den Blick auf Threadgills nervös auf und ab wippendes Knie. Ihm war zum Kotzen. Das Knie, viel mehr noch als das Video, kam ihm pervers vor.
Es war furchtbar. Der schlimmste Tag seines Lebens. Schlimmer als alles, was er sich hatte vorstellen können. Das Allerschlimmste war aber schon passiert, nämlich zwischen der ersten und der zweiten Schulstunde, noch vor der Scheußlichkeit in Threadgills Büro. Jake war aus dem Schulgebäude hinaus auf die Turnhalle zugelaufen und hatte immer noch geglaubt, die ganze Sache ginge vielleicht einfach vorüber, hatte sich immer noch eingeredet, sie wäre nie passiert, hatte die Grenzen verwischt zwischen dem, was er wusste und was er hoffte, als er plötzlich Daisy Cavanaugh zum ersten Mal in der Schule sah. Auf dem Korridor sah er sie.
Sie war gerade dabei, Baseballschläger zu signieren. Ein paar von
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