Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
Gang gekommen sind, und Richard hat es nach etwa einer Stunde bemerkt, als deutlichen Gradmesser dessen, wie geladen die Versammlung war. Es geriet niemand übermäßig ins Schwitzen, keiner schäumte vor Zorn, es herrschte kein wütender menschlicher Gestank.
Als der Anruf kam, war Richard mit seiner Präsentation gerade zur Hälfte durch, und während er seiner völlig aufgelösten Frau lauscht, stellt sich schnell heraus, dass er jetzt nicht an einer, sondern gleich an zwei Fronten zu kämpfen hat: a) bei der Arbeit, worauf er natürlich vorbereitet ist, und b) bei dieser Geschichte mit seinem Sohn, wo dies entschieden nicht der Fall ist.
In seiner Eigenschaft als stellvertretender Rektor der Astor University der City of New York hatte er gleich zu Sitzungsbeginn alle Teilnehmer einzeln namentlich willkommen geheißen (worauf er sich am Vorabend mit Hilfe von Google Images gründlich vorbereitet hatte). Dann hatte er sich bei dem skeptischen, selbstgefälligen Abgeordneten für die Erlaubnis bedankt, die Versammlung in dessen Büroräumen abhalten zu dürfen, und Bert dabei ein bisschen um den Bart gestrichen. Richard tat sein Bestes, dass sich alle gleich von Anfang an wohlfühlten, schenkte eigenhändig Wasser ein, ließ die Gläser am Tisch herumgehen. Sein Sakko hatte er abgelegt und die Hemdsärmel hochgekrempelt, um eine lockere, freundliche Stimmung zu schaffen, und noch vor Beginn hatte er herzhaft in einen Donut von dem Teller gebissen, den sein Stellvertreter George Strauss herumgehen ließ. Privat achtet er zwar darauf, sich bei Süßigkeiten eher zurückzuhalten – sein Vater war mit neunundvierzig an einem Herzinfarkt gestorben –, aber nichts geht anderen so sehr gegen den Strich wie die öffentliche Zurschaustellung von Disziplin. Beim Abbeißen war Richard ein wenig Puderzucker auf den Schoß gerieselt, und so hatte er den Blick gesenkt, als er sich an die Gruppe wandte – wieder diese Wimpern – und den Zucker dabei lässig mit der Hand abgewischt.
»Willkommen allerseits«, hatte er gesagt. »Ich denke, auf Folgendes können wir uns alle sofort einigen: keine gezuckerten Donuts zu essen, wenn man schwarze Jeans trägt.« Er hob den Blick. »Und hier kommt noch ein viel besserer Vorschlag: Wir nehmen ein heruntergekommenes Gewerbegebiet in der großartigsten Stadt der Welt und verwandeln es in einen hochmodernen Campus. Und schaffen dabei gleichzeitig Jobs, Schulen und bezahlbaren Wohnraum für die umliegende Community.« Zum Nachdruck hatte er den halb aufgegessenen Donut auf seiner Serviette beiseitegelegt.
»Wer Letzteres zustande bringt, hat sich den Rest des Donuts verdient, Richard«, sagte Bert. Der beleibte Mittsechziger mit einem Hauch von Silbergrau im gepflegten Bart war in Harlem geboren und aufgewachsen, er vertritt den Bezirk nun schon seit fünfundzwanzig Jahren. Bert ist ebenso intelligent wie Richard oder vielleicht sogar noch gewiefter, gemäß Richards persönlichem, strikt ehrlichem Urteil. »Sich selbst in die Tasche zu lügen, bringt einen nicht weiter«, hatte Richards Vater immer gesagt, und Richard bemüht sich nach Kräften, diesen Leitsatz zu beherzigen. Bert trägt seine Erfahrung und sein Gewicht in der Legislative genauso, wie er seine unverwechselbare, gut geschnittene, mit Goldknöpfen besetzte Weste trägt: behaglich. Würdevoll.
Der altgediente Abgeordnete ist heute Dreh- und Angelpunkt. Gelingt es Richard, Berts Unterstützung zu gewinnen, wird sich alles Übrige nach und nach schon ergeben. Die paar vereinzelten Verweigerer, die ihren Grund und Boden immer noch nicht veräußern wollen, werden sich mit einem Aufschlag schon noch kaufen lassen. Richard hat eigens zu diesem Zweck eine Schmiergeldkasse in der Hinterhand.
»Wissen Sie was, Bert, wenn wir hier heute fertig sind, teile ich mir den mit Ihnen«, hatte Richard vorhin gesagt, vor dem Anruf, und dabei scherzhaft auf den Donut gedeutet.
Manhattanville, östlich vom Broadway und dem Geschäftsviertel von Harlem gelegen, besteht hauptsächlich aus Lagerhallen und Parkgaragen, aus mit Schutt übersäten Brachflächen, einigen Autowerkstätten und Tankstellen – gegenwärtig ist dort so wenig Fußgängerverkehr, dass die Handvoll Geschäftsinhaber und Anwohner bei gutem Wetter manchmal auf Klappstühlen mitten auf den leeren Bürgersteigen an mobilen Kartentischchen sitzen und Domino spielen. In dieser Nachbarschaft, wenn man sie so nennen kann, ist La Floridad beheimatet, das kubanische Restaurant,
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