Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
müssen.
Richard beschleunigt sein Tempo. Ein Fuß nach dem anderen, die Arme treiben vorwärts wie zwei pumpende Kolben, sein Atem geht zum Glück ganz gleichmäßig, tief, ruhig. Er geht wirklich gern laufen. Er ist schon immer wirklich gern gelaufen. In letzter Zeit noch lieber, es ist intensiver, auch wenn er sich jeden Tag mehr vorkommt wie ein Hamster im Laufrad. Wohin läuft er eigentlich? Das fragt Richard sich inzwischen doch. Trotzdem liebt er dieses befreiende Gefühl, das es ihm verschafft. Nicht Achtlosigkeit, wie Lizzie über Yoga sagt – oder ist es Achtsamkeit? –, nein, eher so etwas Fließendes, Auflockerndes bemächtigt sich seiner Gedanken. Das Laufen, das Atmen nimmt seinem Denken die Schwere: Soll er nun zurücktreten? Wie schafft er es, sich wieder einzuklinken? Ist jetzt der richtige Zeitpunkt für seinen Schritt? Wie konnte ihm das bloß geschehen? Jedes bisschen Zeit, in dem er nicht der Gefangene seiner eigenen Gedanken ist, bedeutet eine gewisse Erleichterung.
Das letzte Mal, dass Lizzie tagelang nicht aus dem Bett gefunden hat, um schließlich mit schlaffem Gesicht, übernächtigt und mit vom Schmerz weichgezeichneten Zügen hochzukommen, das war in der Zeit vor Coco. Als Monat für Monat ihre Regel kam und Lizzie diese ganz normale körperliche Funktion mit ihren intensiven erhöhten Hoffnungen jedes Mal als Fehlgeburt erlebte, als Verlust. Bei Jake war alles so leicht gewesen – »Richard, willst du’s gern ohne machen?«, hatte Lizzie ihm eines Nachts ins Ohr geflüstert, als sie noch in Palo Alto wohnten, und allein die Erinnerung daran, wie sexy das damals gewesen war, versetzt ihm heute noch einen Stoß in die Magengrube. Er war derjenige gewesen, der sofort ein Kind gewollt hatte, was jetzt im Rückblick komisch erscheint, jetzt, wo sie so besessen davon ist. Sie sei sich nicht sicher, sagte sie, sie seien doch so jung, sie müsse an ihre Karriere denken, blablabla, später vielleicht, sie seien doch so glücklich, und ob sie denn kein Recht darauf hätten, dieses Glück zu genießen? Lizzie und ihre ausweichenden, zweideutigen Reden, ihre Träumerei, ihre Quälerei. Doch Richard hatte eine eigene Familie haben wollen, er sehnte sich nach Stabilität, und wenn sie zusammen ein Kind hätten – heute konnte er es sich eingestehen –, dann wäre Lizzie an ihn gebunden. Er hatte Angst gehabt, sie zu verlieren. Das ganze Spektrum an Gefühlen, die Farbe, die sie in sein Leben brachte, ihr moralischer Kompass, ihr heftiges Bedürfnis nach ihm, selbst ihre Neurosen waren damals immer noch anziehend. Wenn er sie in ihrer Lebendigkeit betrachtete, fühlte er sich selbst lebendig. Er hatte sie um ihre emotionale Vielschichtigkeit beneidet. Dinge für sie in Ordnung zu bringen, verlieh ihm ein Gefühl von Stärke. Und als sie schwanger war, als er Lizzie nackt, den kugelrunden Bauch herausgestreckt, aus der Dusche kommen sah, da überkam ihn unwillkürlich ein Gefühl von Macht, von Kraft – ich hab das da in dich reingemacht, hatte er gedacht und war dabei ganz euphorisch geworden. Er konnte sein Glück einfach nicht fassen. Mit Jake waren sie glücklich gewesen. Richard war zur Weltbank gegangen, dann an die Cornell University, alles war glänzend für ihn gelaufen, und dann hatte Lizzie plötzlich noch eins haben wollen. Babys waren ein bisschen wie Drogen, hatte er damals gedacht. Jake fühlte sich so gut an, dass sie noch mehr gewollt hatte. Inzwischen fragte er sich, ob es bloß daran gelegen hatte, dass Jake älter wurde? Während Jake immer unabhängiger wurde, wusste Lizzie vielleicht einfach nicht mehr, was sie mit sich anfangen sollte.
Richard biegt ab in Richtung Reservoir. Er nimmt nicht oft diese Strecke, sein täglicher Lauf ist normalerweise länger, doch auf einmal sehnt er sich nach dem stahlblauen Glanz auf dem Wasser. Er schaut reflexartig auf seine Uhr, hat aber die Startzeit vergessen, was eigentlich untypisch für ihn ist. Zu viele Gedanken. Trotzdem beschleunigt er sein Tempo, er will schwitzen, er will heftig und tief atmen. Lizzie hatte ihm damals so sehr leidgetan. Sie war eindeutig depressiv gewesen. Das ist sie zwar jetzt auch, aber er hat momentan keine Zeit für ihre Depressionen und erkennt erschrocken, dass sie ihm gar nicht so furchtbar leidtut. Merkwürdigerweise tut er sich selber leid. Sie sind als Eltern beide damit konfrontiert. Er ist derjenige, der Abstriche hat machen müssen. Was hat Lizzie schon verloren? Sein Mitgefühl ist
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