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Die Zerbrochene Kette - 6

Die Zerbrochene Kette - 6

Titel: Die Zerbrochene Kette - 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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empfing, waren Angst und Ent
setzen.
Gesegnete Cassilda, Mutter der Domänen… Evanda,
Göttin des Lichts, Göttin der Geburt… gnädige
Avarra… was muß sie erlitten, welche Schrecken muß
sie erlebt haben…
Keine der anderen Frauen schlief, obwohl Kindra ihnen befohlen hatte, sich hinzulegen. Rohana spürte ihre
Sorge, ihre Wachsamkeit wie Schwingungen der Luft. In
Zeiten wie dieser ist es ein Fluch, die Gedanken anderer
zu lesen…
Einmal, als Melora in einen kurzen Erschöpfungsschlaf gefallen war, sah Rima über den kämpfenden
Körper hinweg Rohana an und schüttelte kurz den
Kopf. Rohana schloß die Augen. Noch nicht! Gib jetzt
noch nicht auf!
Voller Mitleid sagte Rima: »Sie hat keine Kraft mehr
übrig, um das Kind auszustoßen. Wir können nichts tun
als warten.«
Plötzlich merkte Rohana, daß sie selbst in hysterisches Schreien und Schluchzen ausbrechen würde, wenn
sie auch nur einen Augenblick länger blieb. Mit schwerer Zunge stieß sie hervor: »Ich bin gleich wieder da«, stand auf und stürzte an dem Lagerfeuer vorbei zu der primitiven Latrine, die Amazonen in der Nähe ihrer Lager zu graben pflegen. Sie lehnte sich gegen den harten Felsen, bedeckte das Gesicht, kämpfte darum, sich nicht zu erbrechen oder zu schreien. Als sie die Beherrschung in etwa zurückgewonnen hatte, ging sie ans Feuer, wo noch ein Topf mit dem heißen Getränk aus fermentiertem Korn, das die Amazonen anstelle von Rindentee oder jaco verwenden, leise kochte. Sie schöpfte sich einen Becher voll, trank ihn und versuchte, sich zu beruhigen. Kindra, fast unsichtbar in der Dunkelheit, blieb neben ihr stehen und legte ihr die Hände auf die Schul
tern.
»Steht es schlimm, Lady?«
»Sehr schlimm.« Rohana glaubte für einen Augenblick, an dem heißen, bitteren Gebräu ersticken zu müssen. »Sie ist – keine Frau, die überhaupt leicht Kinder
zur Welt bringt, und hier, ohne fachkundige Hilfe, nachdem sie soviel erlitten hat – nach diesem harten Ritt –
ohne jede Fürsorge oder Bequemlichkeit…«
Kindras Seufzer kam aus der Tiefe ihres Herzens. »Es
tut mir leid, wirklich leid. Es ist grausam, daß sie für ihre
Freiheit so leiden muß und sich ihrer nicht mehr wird erfreuen können, nachdem sie soviel Mut gezeigt hat. Der
Gedanke, daß niemand da ist, das Kind zu nähren oder
zu versorgen, falls es lebend geboren wird, muß sehr zu
ihrem Unglück beitragen.«
In Rohana stieg ein Groll, dessen sie sich bisher nicht
bewußt gewesen war, gegen diese Frauen auf, die sich
den Qualen des Frauenlebens entzogen. Es kostete sie
Mühe, der anderen Frau den brühheißen Inhalt ihres
Bechers nicht ins Gesicht zu schleudern. Bitter sagte sie:
»Ihr! Was wißt ihr von dieser Angst um ein Kind?« »Nun, ebensoviel wie Ihr, Lady«, erwiderte Kindra.
»Ich habe vier Kinder geboren, bevor ich zwanzig Jahre alt war. Ich war sehr jung verheiratet, und mein erstes Kind starb vor der Geburt. Die Hebammen meinten, ich dürfe kein zweites bekommen, aber mein Mann wünschte sich einen Erben. Das zweite und das dritte Kind waren Mädchen, und er verwünschte mich. Bei meinem vierten Kind wäre ich beinahe gestorben – die Geburt dauerte drei Tage lang –, und diesmal, als er unsern Sohn sah, überschüttete er mich mit Geschenken und Juwelen, statt mich zu beschimpfen. Und da erkannte ich, daß das Los einer Frau in unserer Welt verflucht ist. Ich war für ihn nicht von Wert, die Töchter, die ich ihm unter Lebensgefahr geboren hatte, waren für ihn nicht von Wert; ich war nichts als ein Instrument, um ihm Söhne zu geben. Deshalb verließ ich, als ich wieder laufen konnte, eines Nachts meine schlafenden Kinder, schnitt mir das Haar ab und suchte mir allein den Weg zur Gilde der Freien Amazonen. Und dort begann mein
Leben.«
Rohana starrte sie entsetzt an. Ihr fiel nichts ein, was
sie hätte sagen können. Endlich stammelte sie:
»Aber… aber alle Männer sind nicht so, Kindra.« »Nicht? Es freut mich, daß Ihr andere Erfahrungen
gemacht habt, Lady, aber das ist nur Glück und ein günstiges Geschick, mehr nicht.« Sie blickte zum sich rötenden Himmel auf. »Still!« In den letzten paar Minuten
waren aus den langen, geduldigen Seufzern harte, keuchende Atemzüge und heisere, kurze, angestrengte
Grunzlaute geworden. »Geht zu ihr, Lady«, drängte
Kindra. »Es kann nicht mehr lange dauern.«
Der Himmel war jetzt hell genug, daß Rohana das gedunsene Gesicht ihrer Verwandten erkennen konnte.
Melora rang keuchend nach Atem.
»Rohana…

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