Die Zerbrochene Kette - 6
der Reiseunterkünfte sollten ihr Schutz bieten. Sie umklammerte ihre Satteltaschen und schob sich vorbei. Beide Feuerstellen waren besetzt, aber sie wollte ein kleines Feuer an dem Steinsockel der Wand entzünden. Dazu brauchte sie sich nicht einmal mit Zunder abzuquälen; sie konnte sich Glut ausleihen. (Aber bestimmt nicht von dem Mann mit dem Schnurrbart!)
Am hinteren Ende hatten sich fünf oder sechs Personen versammelt. Sie drehten sich um, als Magda sprach, und eine von ihnen, eine hochgewachsene, sehr dünne Gestalt, kam auf sie zu.
»Sei willkommen, Schwester«, sagte die Gestalt, und Magda vernahm die Stimme voller Erstaunen. Es war die Stimme einer Frau, tief und etwas heiser, aber unzweifelhaft weiblich. »Komm und setz dich zu uns ans Feuer.«
Zandrus Höllen, dachte Magda, in ihrer Bestürzung unwillkürlich einen darkovanischen Gott anrufend, was nun?
Es sind Freie Amazonen.
Echte!
Die große, magere Frau wartete nicht auf Magdas Zustimmung. Sie fuhr fort: »Ich bin Camilla n’ha Kyria, und wir sind unterwegs nach Nevarsin. Komm, leg dein Gepäck hierher.« Sie befreite Magda von ihren Satteltaschen und führte sie ans Feuer. »Du bist halb erfroren, Kind! Zieh diese durchweichten Kleider aus, falls du welche zum Wechseln hast. Wenn nicht, wird dir eine von uns etwas leihen, bis deine eigenen Sachen getrocknet sind.« Sie zeigte auf eine Stelle, wo die Frauen Leinen gezogen und Decken aufgehängt hatten, um sich einen Privatraum abzuteilen. Im Licht der Laterne, die dort brannte, sah Magda die Amazone Camilla deutlich. Sie war groß und hager; ihr Gesicht trug tiefe Furchen, die teils vom Alter, teils von Narben herrührten, die nach Messerstichen aussahen. Ihr Haar war ganz grau. Sie hatte Übermantel und Jacke ausgezogen und trug nur das gestickte leinene Unterhemd einer Frau aus Thendara. Darunter war ihr Körper so mager und flach, daß Magda erkannte, was sie war: Eine emmasca, eine Frau, die durch eine illegale Operation zum Neutrum gemacht worden war.
Magda trat hinter den Deckenvorhang, zog ihre nassen Kleider aus und schlüpfte in die Hose und Jacke, die sie zum Wechseln mithatte. Sie war froh über die Abschirmung – weniger wegen der rauhen Männer am anderen Ende, die sie in der dämmrigen Unterkunft kaum hätten sehen können, als wegen der anderen Frauen. Hatte Lady Rohana jede Einzelheit ihrer Kleidung und Ausrüstung richtig ausgewählt?
Eine zierliche Frau mit Haaren, die genau die Farbe von frisch gemünztem Kupfer hatten, steckte den Kopf um die Decken. »Ich bin Jaelle n’ha Melora, gewählte Anführerin dieser Gruppe. Sind deine Füße erfroren?« Sie bückte sich und sah sich Magdas Füße und Zehen genau an.
»Nein, ich glaube nicht«, antwortete Magda. Jaelle berührte vorsichtig einen Fuß. »Du hast Glück gehabt. Ich wollte gerade sagen, Camilla hat Medizin gegen Frostbeulen, falls du welche brauchst, aber ich glaube, sogar deine Wangen sind heil geblieben. Du bist gerade noch rechtzeitig aus dem Wind gekommen. Nun zieh deine Strümpfe an und komm ans Feuer.«
Magda sammelte ihre nassen Sachen ein und hängte sie auf die Stangen, die die Frauen zum Trocknen ihrer eigenen Kleider aufgestellt hatten. Auf einem kleinen Rost brieten über der Kohlenglut ein paar Vögel, und in einem Kessel, der von einem Haken herabhing, kochte eine heiße, dampfende Suppe. Sie roch so gut, daß Magda das Wasser im Mund zusammenlief.
Jaelle fragte: »Dürfen wir deinen Namen und dein Gildenhaus erfahren, Schwester?«
Magda nannte ihren Decknamen und behauptete, aus dem Gildenhaus in Temora zu kommen. Sie hatte absichtlich die am weitesten entfernte Stadt gewählt, die sie kannte, denn sie hoffte, das werde kleine Unterschiede in der Kleidung und im Benehmen erklären.
»Welch eine Nacht zum Reisen! Zwischen hier und Nevarsin ist bestimmt nicht einmal ein Buschspringer unterwegs«, meinte Jaelle. »Bist du den ganzen Weg von Temora gekommen? Deine Kleider sind aber in Thendara hergestellt. Lederarbeiten und Stickereien dieser Art findet man hauptsächlich in den Venzabergen.«
Frechheit siegt, dachte Magda und erwiderte: »Daher stammen meine Sachen auch. So warme Kleidung bekommt man an der Küste nicht – das wäre, als versuche man, Fisch in den Trockenstädten zu kaufen. Meine Auftraggeberin war so großzügig, mich für die Reise auszustatten, und das durfte ich auch erwarten, wenn sie mich zu dieser Jahreszeit in die Hellers schickt.«
»Willst du an unserer Mahlzeit
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