Die Zerbrochene Kette - 6
tote Frau in dem Augenblick, da du deine Nase aus deinem eigenen Fenster
steckst!«
Magda schoß es durch den Kopf: Ein erzwungener Eid
ist nicht gültig. Das war die terranische Magda. Gleich
darauf dachte das darkovanische Mädchen Margali, das
in Caer Donn von der Lebensweise, dem Kodex, dem
Glauben seiner darkovanischen Spielgefährten fast tie
fer geprägt worden war als von den Lehren seiner Eltern:
Einen Eid darf ich nicht brechen.
Es war ein schrecklicher Konflikt; ihr war, als werde sie
in zwei Teile gerissen. Ich bin in aller Unverschämtheit
zwischen zwei Welten hin und her gewandert; nun muß ich
den Preis dafür zahlen, und ich weiß nicht, ob ich es kann!
In dem vergeblichen Versuch, ihre Gefühle zu verbergen, schlug sie die Hände vor das Gesicht. Wenn ich mich
weigere, werden sie mich dann auf der Stelle töten?
»Willst du den Eid leisten?«
Magda fragte: »Welche andere Wahl habe ich?« »Keine. Ich schulde es meinen Frauen und allen
Frauen der Gilde, daß niemand bei uns eindringen und unsere Geheimnisse nach draußen tragen darf. Wenn du nicht schwören willst, müssen wir dich als Gefangene zum nächsten Gildenhaus bringen, und dort wirst du festgehalten, bis du bereit bist zu schwören oder bis Mittwinter, wenn die ganze Gilde zusammentrifft und unsere Richterinnen sich deine Geschichte anhören und entscheiden können, was mit dir geschehen soll. Es mag sein, daß dir keine Strafe auferlegt wird, daß du nur schwören mußt, alles, was du gesehen hast, geheimzuhalten, und daß du dann gehen darfst.«
»Soviel will ich gern beschwören«, beteuerte Magda aufrichtig.
»Aber ich habe keine Vollmacht, dir diesen Eid abzunehmen. Das kann nur eine Richterin in der Mittwinternacht, und nur, nachdem sie sich alles angehört hat, was mit deinem Fall in Zusammenhang steht. Zum Beispiel, ob du mehrere kleine Kinder hast und sonst niemand da ist, der für sie sorgt, oder ob du bereits einem Turm den Eid als Bewahrerin geleistet hast. Wenn du es vorziehst, können wir dich jetzt zu unserm Gildenhaus in Neskaya bringen – das ist nur ein Zehntagesritt von hier – und dich dort lassen, bis zu Mittwinter Gericht über dich gehalten wird.«
Und bis dahin ist Peter zu Tode gefoltert worden!
Ich vermute, ich muß ihren verdammten Eid leisten. Das gibt mir Zeit zu entscheiden, was ich tun soll…
Wahrscheinlich handelte es sich um nicht mehr als ein Gelöbnis – sie erinnerte sich an die paar darkovanischen Eide, deren Inhalt und Form ihr bekannt waren –, keiner Freien Amazone Schaden zuzufügen und keins ihrer Geheimnisse zu verraten. Und ich kenne kein einziges, so daß ich das getrost versprechen kann! Soviel kann ich in allen Ehren tun.
Aber wenn doch mehr daran ist? Magda empfand eine Art von Verzweiflung. Sie bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen. »Ich will den Eid leisten.«
Jaelle nickte. »Das habe ich von dir erwartet. Komm, laß es uns gleich zu Ende bringen. Wir sind alle müde, und du bist am müdesten, könnte ich mir vorstellen. Komm hier ans Feuer, und stell dich zwischen uns.«
Magda gehorchte. Jaelle stand unmittelbar vor dem Feuer, den Rücken den Flammen zugekehrt. Von neuem fiel Magda auf, wie sehr jung sie wirkte. Wie alt mochte sie sein? Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig… mehr kaum! Die Frauen bildeten einen Kreis um sie. Camilla trat zu Jaelle und sagte leise: »Du bist jung für diese Aufgabe – möchtest du, daß ich ihr den Eid abnehme?«
Jaelle streichelte die gefurchte alte Wange. »Liebe Tante, du bist immer bereit, mich zu schonen oder abzuschirmen. Doch wenn ich alt genug bin, gewählte Anführerin einer Gruppe zu sein, bin ich bestimmt auch alt genug, einen Eindringling zu bestrafen oder einen Eid abzunehmen.«
Sie sagte zu Magda: »Entblöße deine Brüste vor uns.«
Erschrocken, verwirrt fummelte Magda an den Schnüren ihres zerrissenen Hemds. Ein Teil von ihr, die geschulte Agentin, die nie aufhörte, sich zu späterer Verwendung im Geist Notizen zu machen, frohlockte – die examinierte Anthropologin nahm an einem ungewöhnlichen und geheimen Stammesritus teil! Aber der übrige Teil ihres Ichs war nichts als ein verängstigtes Mädchen, das sich wie jedes andere in Caer Donn aufgewachsene Mädchen schämte, sich vor Fremden zu entblößen. Sie öffnete die Schnüre; Sherna kam und zog das Hemd hinunter, so daß sie bis zur Taille nackt dastand und zitterte. Sie ballte die Fäuste und widerstand dem Impuls, sich mit den Händen zu bedecken, als die
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