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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Ich glaube nicht, daß man sich darauf verlassen kann.«
    » Ja«, sagte Godard langsam, » wenn es stimmt.«
    Die Uhren tickten nun aufdringlich und laut, und Simon schien, sie wurden immer schneller. Wie hatte Monsieur Godard gesagt? Das erscheint den Menschen nur so, wenn sie in sich keine Ruhe haben. Das Gesicht seines Lehrers, der auch sein Onkel war, entstand vor ihm, das Gesicht, als er ihn schlug, zehnmal auf jede Hand. Ein nur scheinbar zufriedenes, selbstgewisses Gesicht, hinter dessen Maske harter Zorn mit saurem Triumph kämpfte. Am Vormittag in der Klasse hatte er das nicht erkannt, erst jetzt, in der Erinnerung, schien es ihm ganz deutlich. Er war klug genug zu wissen, daß Erinnerung nicht immer aus der Vergangenheit kommt, sondern oft von Gefühlen der Gegenwart neu erfunden wird.
    » Er war ein böser Mensch.« Die spröde Stimme des Uhrmachers drang in Simons Gedanken wie aus weiter Ferne. Ein böser Mensch, hatte er gesagt, als wolle er ihn trösten.
    » Ihr kanntet ihn?« Simons Stimme klang ihm selbst fremd, und er fühlte Tränen aufsteigen. Tränen um einen Menschen, den er doch zu hassen gelernt hatte? Er war der Bruder seines Vaters gewesen, vielleicht waren es die Tränen seiner Sehnsucht nach einem Onkel, der wie ein Vater, wie ein liebender Vater für ihn fühlte, und den er nun niemals mehr haben würde. Er hatte seinen Onkel als seinen Lehrer hassen gelernt, aber, auch das erkannte er erst jetzt, er hatte nie aufgehört zu hoffen, daß der eines Tages seine Maske ablegen und sich zu seiner Güte und Liebe bekennen werde, die er für den Sohn seines einzigen Bruders doch irgendwo verborgen haben mußte. Simon hatte die Strenge seines Onkels immer als eine Art übersteigertes Gerechtigkeitsempfinden entschuldigt: Gewiß wollte er nur um jeden Preis den Verdacht vermeiden, seinen Neffen zu bevorzugen. Doch tatsächlich wußte Simon genau, daß das nicht stimmte. Die Wahrheit hatte er selbst heute morgen zu Niklas gesagt: » Eigentlich hat er mich schon immer nicht gemocht.«
    » Ihr kanntet ihn, Meister Godard?« fragte er noch einmal.
    » Ja, aber nur sehr flüchtig.« Der Uhrmacher sah aus dem Fenster auf die Straße hinaus, eine Wasserträgerin schleppte ihre überschwappenden Kübel vorbei, und zwei Damen unter zierlichen Sonnenschirmen bogen, ihre Seidenröcke vor dem Staub der Straße gerafft, plaudernd vom Berg in die Große Johannisstraße. » Ich habe seine Taschenuhr repariert. Ein gutes, recht wertvolles Stück. Du kennst sie gewiß. Ich habe … nun, ich habe sie repariert, und er war nicht gleich zufrieden. So etwas kommt zuweilen vor.«
    ›Ich habe ihn heute mittag noch gesehen‹, hatte er eigentlich sagen wollen. Aber es gab keinen Grund, warum Emma und Simon, warum überhaupt irgend jemand das erfahren mußte.
    3. KAPITEL
    DONNERSTAG, DEN 4. AUGUSTUS,
    NACHMITTAGS
     
    Der sanfte Wind vom Fluß hatte sich gelegt, und der Spätnachmittag begann den Hundstagen Ehre zu machen. Claes Herrmanns verfluchte die dumme Idee, zu seinem ersten Besuch im Johanneum die Perücke aufgesetzt zu haben, sein eigenes Haar hätte es auch getan. In England verzichtete man auch bei offiziellen Anlässen immer häufiger auf die Perücke, und nicht nur das, ganz allgemein zog man dort neuerdings bequemere Kleidung vor. So war jedenfalls im Kaffeehaus zu hören, wo immer die neuesten Nachrichten debattiert wurden, egal ob über die Unruhe in den amerikanischen Kolonien oder die unglaublichen Verschwendungen und Prassereien in Versailles (das nur, wenn der französische Gesandte gerade nicht in der Nähe war). Überhaupt liebten es die Engländer neuerdings, eine gewisse Lockerheit, um nicht zu sagen Nachlässigkeit, in ihrer Kleidung als Eleganz anzusehen, ein Zeichen der Hinwendung zur Natur, auch einer größeren Freiheit des Geistes. Claes, seit fast drei Jahren mit einer Engländerin verheiratet, fand, daran müsse man sich erst gewöhnen, aber alles in allem war dies doch eine sehr angenehme Entwicklung, die viel zur Bequemlichkeit und bei den Damen gewiß zu einem deutlichen Rückgang der Zahl der Ohnmächten durch zu eng geschnürte Mieder beitrug. Andererseits war eine schlanke Taille doch ein hübscher Anblick. Als seine Gedanken bei den ästhetischen Vor- und Nachteilen des enggeschnürten Mieders angekommen waren, rief er sich energisch zur Ordnung. Gerade erst war er dem Tod begegnet, hatte womöglich sogar einem Mörder gegenübergesessen, und nun vertrieb er sich die Zeit mit der

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