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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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gebundenen Federn hoch. Ab und zu holte sie weit aus, und die kleinen Federkreise begannen sich munter zu drehen. Wagners Augen wanderten über die Menge, suchten, ohne daß es ihm bewußt war, nach flinken Händen, die sich aus fremden Taschen und Körben bedienten, verzichtete trotz des vom süßen Duft wachsenden Appetits auf einen Kringel und entschied, sich auch erst später in der Fronerei mit einem Becher Wasser zu erfrischen.
    An der Einmündung zur Großen Johannisstraße entdeckte er Grabbe. Seit Öffnung der Tore bei Sonnenaufgang drückte sich der Weddeknecht dort herum, um gleich zu melden, wenn Uhrmachermeister Godard seine Werkstatt verließ. Womöglich mit einem Reisekorb und in verstohlener Eile.
    Grabbe stand in der Sonne, als sei er dort angewachsen, und auch wenn seine Augen wie bei irgendeinem Tagedieb vor Schläfrigkeit halb geschlossen waren, seine ganze Haltung müßig und träge erschien, war Wagner gewiß, daß ihm niemand entgangen war, der die Godardsche Werkstatt betreten oder verlassen hatte. Zwei andere Männer hockten vor den beiden Gängen, die aus dem Labyrinth der hinteren Höfe auf den Breitengiebel und die Knochenhauerstraße mündeten und möglicherweise auch zu einem Hinterausgang der Werkstatt führten. Wie die anderen beiden, an denen Wagner wenige Minuten zuvor vorbeigegangen war, gab ihm auch Grabbe kein Zeichen des Erkennens.
    Wagner neigte sich zu dem ersten der beiden Fenster der Werkstatt, beschattete seine Augen und blinzelte durch die Scheibe. Das Sonnenlicht fiel in schrägen Bahnen hell in den Raum, und Wagner erkannte die Arbeitstische, sah Uhren an den Wänden, zwei Standuhren mit langen, sanft schwingenden Pendeln in polierten, rötlich schimmernden Holzgehäusen. Auf schmalen Borden über den Arbeitsplätzen standen nebeneinander aufgereiht Kästen mit allerlei Gerät, er sah auch lange Holzbretter, an denen griffbereit Werkzeuge hingen. Äußerst diffizile Werkzeuge, ganz andere als die zumeist gröberen der Schlosser, deren Zunft die Uhrmacher angehörten.
    »Er ist drin«, murmelte Grabbe mit kaum bewegten Lippen, »seine Tochter und die Wirtschafterin auch, sonst keiner.«
    Wagner nickte zufrieden. Er konnte nun kein Publikum brauchen. Die Türglocke schlug ihre helle Melodie, und Wagner betrat die Ladenwerkstatt. Neugierig sah er sich um, aber es gab kaum mehr zu entdecken, als er schon durch das Fenster gesehen hatte. Aus einem hinteren Raum hörte er knarrende Geräusche, dann quietschte es, als zöge jemand einen widerspenstigen dicken Nagel aus festem Holz. Eine Männerstimme ächzte erleichtert, die hellere Stimme einer noch jungen Frau antwortete mit einem Lachen, dann folgte ein schneller, offensichtlich heiterer Wortwechsel. Wagner lauschte, doch vergeblich. Sie sprachen nicht leise, aber leider – französisch.
    Er räusperte sich und wartete. Die Stimmen ließen sich nicht stören. Er ging zur ‘Für, öffnete und schloß sie erneut, und endlich erstarb das Gespräch. Er hörte Schritte, in der Tür erschien eine junge Frau, lächelte verbindlich und sagte: »Guten Morgen, Monsieur.«
    Was für ein Lächeln. Was für Augen – samtdunkel unter dem sonnenblonden Haar, das sich in zarten Locken hinter kleinen Ohren kringelte.
    »Monsieur?« Sie sah ihn fragend an, in ihren Augen blitzte Amüsement. Der kleine, dicke Mann im dunklen Rock mit der schwitzenden Stirn war nicht der erste Kunde, der sie so ansah, mit diesem Blick, als sei er der heiligen Maria persönlich begegnet. »Womit kann ich Euch helfen? Möchtet Ihr Eure Uhr reparieren lassen?«
    »Meine Uhr? Nein, nicht meine Uhr.« Um nichts in der Welt hätte er zugegeben, daß er keine besaß. »Nein, ich habe nichts zu reparieren. Ich möchte Monsieur Godard sprechen. Ist er da?«
    Aus dem hinteren Raum kam ein angestrengtes Knurren, dann der Klang splitternden Holzes und ein erleichtertes Schnaufen.
    Emma sah sich lächelnd nach der seltsamen Melodie um. »Ja, Monsieur, er ist da, Ihr könnt ihn hören. Aber Ihr könnt auch hören, daß er im Moment sehr beschäftigt ist. Gewiß kann auch ich Euch helfen. Ich bin Emma Godard und mit den Geschäften meines Vaters völlig vertraut, wenn Ihr mit mir vorliebnehmen würdet?«
    Nichts hätte Wagner lieber getan. Er senkte seinen Blick von den dunklen Seen ihrer Augen zu ihrem Hals, aber das machte ganz und gar nichts besser.
    »Es tut mir leid, Mademoiselle, wirklich sehr, aber leider, es ist nicht möglich, ich muß Euren Vater selbst sprechen.

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