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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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überhören. Rosina hakte sich bei ihr ein und zog sie mit sich zum Ufer hinunter. Sie verstand Annes Sehnsucht nach ihrer lieblichen Insel Jersey mit dem milderen Klima und den süßeren Früchten besser als irgendeiner in der Herrmanns-Familie – Niklas, gewiß ein heimlicher Experte in Sachen Heimweh, vielleicht ausgenommen. Im letzten Herbst hatte Claes Herrmanns seiner Frau versprochen, in nächsten Frühjahr werde er mit ihr nach Jersey reisen, ganz bestimmt. Das Frühjahr war längst vorbei, auch der Sommer ging schon zu Ende, und die Herrmanns’ waren immer noch in Hamburg. Anne lebte nun schon drei Jahre an der Elbe, sie wußte, was sie tat, als sie ihre Insel verließ. Sie war nicht mehr jung genug gewesen, um zu glauben, die Liebe mache alles möglich und das Vergangene vergessen. Nun war ihre späte Liebe glücklicher, als sie zu hoffen gewagt hatte, doch die Sehnsucht nach den Orten und Menschen ihrer Vergangenheit war deshalb nicht geringer geworden.
    »Was kam diesmal dazwischen?«
    »Dazwischen?« Annes Gedanken waren noch voller Ungeduld bei ihrem versiegten Springbrunnen.
    »Ich meine den Grund, warum ihr in diesem Frühjahr nicht nach Jersey reisen konntet.«
    Anne lachte leise. »Du kannst Gedanken lesen, Rosina. Ja, daran habe ich vorhin gedacht. Obwohl ich mich sehr bemüht habe, es nicht zu tun. Mein Leben ist jetzt hier, es war meine Entscheidung, und ich bedaure sie nicht. Nur manchmal habe ich eine kleine Schwäche. In unserem Garten in St. Aubin haben wir einen ganz besonderen Springbrunnen, er ist viel größer als dieser und schon sehr alt. Das Wasser springt aus einer Fontäne in der Mitte aus den Mäulern dreier dicker Fische. Er war immer da, solange ich denken kann. Der Marmor ist grünlich vom Alter, er sieht nicht einfach nur wie ein Gebilde aus Stein aus, und seine Geräusche waren die Geräusche des Sommers. In den Nächten, wenn es noch stiller war als an den ohnedies stillen Tagen, konnte ich ihn immer hören. Jedenfalls war er nie verstopft.«
    Sie entzog Rosina ihren Arm, richtete mit energischen Handgriffen ihre – wie meistens – zerzauste Frisur, zog hier eine Haarnadel heraus und steckte sie fester, bändigte dort eine lichtbraune Strähne mit einem weißen Perlmuttkamm. Dann sah sie über den See, zeigte mit einer weitausholenden Handbewegung hinüber zu den kupfergrünen Kirchtürmen und den roten und schwarzblauen Ziegeldächern, die über die Wälle der Stadt ragten, auf die sich eifrig drehenden Mühlen links und rechts der Brücke beim Lombardhaus, auf die zu dieser Nachmittagsstunde schon wachsende Zahl der kleinen Boote voller fröhlicher Ausflügler auf dem weiten See.
    »Ich weiß nicht, warum ich manchmal ein bißchen traurig bin, Rosina. Ist es hier nicht wunderschön? Habe ich nicht einen wunderschönen Garten, eine liebevolle Familie … «
    »Und ich habe eine wunderbare Frau.«
    Claes Herrmanns kam, den weinroten Rock und die rosenholzfarbene Weste weit geöffnet, die Halsbinde in der Hand, mit großen Schritten über die Wiese. Der weiche Boden hatte den Klang seiner Schritte verschluckt, aber Rosina war sicher, daß er nur den letzten Satz gehört hatte. Selbst Claes Herrmanns, ein Meister, wenn es darum ging, nur wahrzunehmen, was er auch wahrnehmen wollte, hätte bei der Nachricht, daß seine Frau manchmal traurig sei, kaum ein so strahlendes Gesicht gezeigt. Er küßte Rosina galant die Hand, legte seiner Frau den Arm um die Schulter und sah beide an, als habe er gerade ein Königreich erobert.
    Annes Betrübnis war wie weggewischt, und Rosina hoffte, daß es nicht nur so schien.
    »Und nun, Madame, Mademoiselle, darf ich Euch meinen Arm bieten? Ich möchte Euch nämlich möglichst schnell ins Gartenzimmer befördern. Es riecht schon auf der Terrasse ganz köstlich aus der Küche nach irgend etwas Gesottenem, und wenn Elsbeth nicht gleich servieren kann, fange ich an, die Blätter von diesem seltsamen Busch zu verspeisen.«
    »Das ist ein Schneeball, Claes. Der ist überhaupt nicht seltsam, sondern wächst in jedem Bauerngarten. Du erkennst aber auch gar nichts, was nicht in einem Sack, einem Faß oder einer Tonne steckt. Oder zwischen den Seiten deines Kontorbuches.«
    Ihre Augen blitzten, und die Grübchen in ihren Wangen beruhigten Rosina. Solange der Anblick ihres Ehemannes solche Grübchen hervorzuzaubern vermochte, würde auch ihre Traurigkeit immer wieder verschwinden. Jedenfalls wenn Claes sich irgendwann doch noch dazu durchringen konnte,

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