Die zerbrochene Uhr
verlassen und die Alsterwiesen zu erkunden.
Als Blohm die mit Kalb- und Schweinefleischgehacktem gefüllten Täubchen mit der nach Wacholderbeeren duftenden Soße aus Bratensud, saurem Rahm und Rotwein servierte, begann Anne unruhig zu werden. Die Jungen waren keine Kinder mehr, beide konnten schwimmen, und was sollte ihnen bei einem harmlosen Ausflug in die Nachbarschaft geschehen? Es war auch nichts Besonderes, daß Niklas die Zeit vergaß, aber dennoch … In der Schule war ein Mord geschehen, und der Tote war Niklas’ Lehrer gewesen. Natürlich war ihre Unruhe völlig überflüssig. Gewiß machte sie nur das Wetter empfindlicher als angemessen, diese Wärme, die nun auch in die Häuser kroch und selbst den Nächten die Frische zu nehmen begann.
»Laß nur«, Claes legte beruhigend seine Hand auf die seiner Frau, »du hast ihm erlaubt, heute länger auszubleiben. Er wird bald kommen.« Schon wieder einer, dachte Anne, der heute ihre Gedanken zu lesen vermochte. »Gleich kommt er mit zerrissenen Strümpfen und nassen Schuhen angerannt und zieht vergnügt seine Beute aus der Tasche, irgendeinen unansehnlichen Käfer oder ein stinkendes Kraut. Selbst Niklas wird irgendwann hungrig. Und Muto«, fügte er mit einem Lächeln zu Rosina hinzu, »ganz gewiß auch.«
Dann fand er, nun sei genau die richtige Zeit für einen kühlen weißen Bordeaux, wogegen niemand etwas einzuwenden hatte. Nicht einmal Wagner, wenn er es denn gewagt hätte, obwohl er immer unruhiger auf seinem Stuhl hin- und herrutschte. Er war zu einem dienstlichen Gespräch mit dem Scholarchen über den Stand der Dinge in Sachen Mord im Johanneum nach Harvestehude gekommen, und nun saß er in der Sonne inmitten eines blühenden Gartens, hörte dem Familiengeplauder zu, aß gefüllte Täubchen und trank teuren französischen Wein, als sei er ein Großbürger – er betete im stillen, daß nicht ausgerechnet an diesem Nachmittag Weddesenator van Witten auf die Idee kam, den Herrmanns’ einen Besuch zu machen.
»Und plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und Mademoiselle Meyerink stürzte ins Zimmer«, hörte er Madame Kjellerup sagen, als er sein stilles Gebet, besser gesagt, seinen Stoßseufzer, gerade zum drittenmal wiederholte. Aus den Täubchen waren abgenagte Gerippe geworden, und das Geräusch des Schneebesens aus der Küche verriet, daß Elsbeth eine ihrer delikaten Cremes aus Früchten, Sahne, Eidottern und viel weißem Zucker zum Dessert bereitete.
»Mademoiselle wer?« Auch Claes hatte seiner Tante nur mit einem Ohr zugehört. Ihr Bericht über den Besuch bei der Domina war recht launig, Augusta erzählte immer amüsant, aber die Stiftsdamen interessierten ihn heute nicht mehr, als die Höflichkeit erforderte.
»Mademoiselle Meyerink. Ich glaube, sie ist eine Cousine von den Rotenbachs in der Gröningerstraße. Oder eine Nichte. Jedenfalls ist sie eine seltsame Person. Spindeldürr und äußerst nervös. Und nun«, Augusta legte eine effektvolle Pause ein, »hat sie Geräusche im Keller gehört und ist überzeugt, daß der heilige Dominicus persönlich in den alten Gängen herumspukt. Auf der Suche nach Erlösung, was ein anständiger Katholik als schwere Beleidigung empfinden muß. Aber ich bin sicher, daß Mademoiselle keinen kennt.«
Plötzlich fand Claes den Bericht über die Stiftsdamen außerordentlich spannend, und Wagner stellte schlagartig seine Stoßgebete ein und vergaß den Weddesenator.
»Geräusche im Keller, Augusta? Tatsächlich? Was waren das für Geräusche? Türenklappen? Stimmen?«
»Ich dachte mir, mein lieber Claes, daß dich das interessieren würde. Vielleicht erinnerst du dich, daß ich dir erst vorgestern sagte, auch die Jungfrauen im Stift haben Ohren und Augen. Geräusche eben, was für welche weiß ich nicht. Das weiß sie selbst wohl nicht so genau. Aber es ist doch interessant.«
»Äußerst interessant. Vor allem, wenn man bedenkt, daß Wagner und ich gestern im Keller des Klosters, ganz am Ende der Gänge, wo sonst nur das Winterholz gelagert wird, eine Tür entdeckt haben, die angeblich seit zweihundert Jahren verschlossen, aber tatsächlich offen und auch noch gut gefettet ist. Es ist eine von zwei uralten Türen, die früher zu den Verbindungsgängen zum anderen Teil des Klosters führten, in dem heute die Schulräume untergebracht sind.«
»Dann kann man also vom Kloster durch den Keller in die Johannisschule gehen, ohne daß man dabei gesehen wird?« Selbst Anne gelang es für einen Moment, ihre
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