Die zerbrochene Uhr
einer, verheiße nichts Gutes, und ein anderer erinnerte daran, daß im Oktober anno ’56, am Abend vor der letzten großen Flut, der Himmel ganz genauso ausgesehen habe. Sein Begleiter, seit kurzem Besitzer einer kleinen Caffamacherei, sagte nichts. Er betrachtete die grandiose Komposition der Schattierungen, die sich im tief-, fast schwarzblauen Wasser des Flusses spiegelten, sah über die weite Landschaft am jenseitigen Ufer, deren Farben von einem in den letzten Sonnenstrahlen unwirklich leuchtenden Grün zu stumpfem Umbra verblaßt waren, und fand, daß diese Tönungen wunderbar für seine Stoffe paßten.
Eine junge Frau im blau-weiß gestreiften Rock aus leichtem Kattun, die weiße Leinenhaube und das Brusttuch in der Hand, eilte an ihnen vorbei und hörte weder die Worte, noch hatte sie einen Blick für den Himmelszauber. Rosina war ganz sicher gewesen, daß Jean und Helena, Titus und die anderen noch im Komödienhaus beim Dragonerstall waren, aber es war zu spät. Sie hätte es wissen müssen. Beim ersten Schimmer des Abendrots hatte Jean das Textbuch, den Hammer, eine Sonne aus Goldpapier oder was immer er gerade in der Hand gehalten hatte, fallen gelassen und das Ende des Tages und der Arbeit verkündet. Jedenfalls war das Komödienhaus verschlossen, von drinnen kam kein Laut, selbst vor dem Stall der Stadtsoldaten war niemand mehr zu sehen. Von Osten zog schon die Dunkelheit herauf, und sie mußte sich beeilen, wenn sie den Bremer Schlüssel noch in der Dämmerung erreichen wollte.
Ihr war, als sei sie heute schon bis nach Bremen und zurück gewandert. Was hieß hier gewandert? Gerannt. Ständig gerannt. Die Domina hatte ihr keine Minute Ruhe gelassen. Rosina war gewohnt, schwer zu arbeiten, aber sie war nicht gewohnt, ständig Befehle entgegenzunehmen und pausenlos hin- und herzulaufen, für einen Krümel Salz oder um ein Fenster zu öffnen, nur um es wenige Minuten später wieder schließen zu müssen, für eine Frage an die Köchin nach dem Speiseplan für die übernächste Woche oder um zu prüfen, ob die Pflaumen im Garten der Domina gut reiften. Sinnlose Befehle, die nur jemand gab, der zuviel Zeit hatte. Oder Langeweile.
Dabei herrschte im Zimmer mit dem großen Sekretär neben dem Salon der Domina ein ständiges Kommen und Gehen. Nicht nur die Stiftsdamen klopften an ihre Tür, auch der Klosterschreiber mit seiner Mappe voller Listen und Notizen, der Gärtner nahm Befehle entgegen, der Klostervogt kam aus Eppendorf mit seinem Bericht über die neuen Mühlenpachtverträge, der Bote des Ersten Bürgermeisters, von jeher Patron des Klosters, wollte empfangen werden. Die Domina, das hatte Rosina spätestens an diesem zweiten Tag ihres Dienstes bei der Ehrwürdigen Jungfrau begriffen, war energisch darauf bedacht, ständig über alles informiert zu sein, was die ausgedehnten Besitzungen des Klosters betraf. Vogt und Patron hatten gewiß kein leichtes Leben mit ihr.
Bevor Mette van Dorting zur Ersten unter den Konventualinnen gewählt worden war, so hatte ihr die Wäscherin zugeflüstert, hätten Patrone und Vögte sich keinen Deut um die Meinung der jeweiligen Domina gekümmert, aber diese … Dann hatte sie vielsagend geschwiegen, und Rosina war schon weitergehetzt, den Arm voller frischgebügelter Mundtücher, die die Domina unbedingt sofort aus der Wäscherei geholt haben wollte. Als läge nicht ein ganzer Stapel, akkurat gefaltet und nach Melisse und Lavendel duftend, in ihrem Schrank.
Andererseits schien es Rosina, als scheuche die Domina sie mit einem gewissen Vergnügen. Wahrscheinlich wollte sie sie auf die Probe stellen, wollte ihren Verstand und ihre Geschicklichkeit prüfen, ihre Behendigkeit und ihren Gehorsam. Vor allem ihren Gehorsam. Was Rosina völlig überflüssig fand, schließlich sollte sie nur für einige Tage aushelfen.
Schon gestern, am Sonntag vormittag, hatte sie sich in der blau-weiß gestreiften Tracht der Herrmannsschen Mädchen als Rosa Stein bei der Domina vorgestellt. Madame Augusta hatte recht gehabt, ein kleines Billett von ihr am frühen Sonntagmorgen hatte genügt, um ihr noch am gleichen Tag den Weg in das Stift zu öffnen. Die Ehrwürdige Jungfrau hatte kaum Fragen gestellt, offensichtlich war Augusta Kjellerups Wort Bürgschaft genug. Ihr Blick blieb nur kurz an der langen schmalen Narbe auf der Wange des neuen Mädchens haften, und eine kaum wahrnehmbare Bewegung ihrer linken Augenbraue verriet, daß sie deren Rock für mindestens drei Fingerbreit zu kurz
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