Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
und stürzte an der Magd vorbei.
Aragor warf schnell ein weiteres Netz aus Schatten zum Ende des Korridors. Ehe sich dort jemand einen Reim darauf machen konnte, waren alle in der Kammer verschwunden. Zur schloss die Tür.
Der Raum, in den sie geflohen waren, wurde von mehreren Sprossenfenstern erhellt. Draußen sah man eine Wiese vor dem Hintergrund silbrig schimmernder Bäume. Mehrere Trupps der Leibgarde durchsuchten den Park mit Spürhunden.
»Das ist die Stube der Näherinnen«, bemerkte Oban leise. Er deutete mit der Hand zu Tischen, auf denen sauber zusammengelegte Gewänder und verschiedene Stoffe lagen. Außerdem waren mehrere Kleiderständer und eine große Truhe zu sehen. Die Stimme des Hauptmanns verriet, wie wenig er von Frauenarbeit hielt.
»Wo sind die anderen Mägde?«, erkundigte sich Taramis bei dem rothaarigen Mädchen.
»Wieder in der Küche. Nur ich bin geblieben, um für meinen Herrn Wäsche zu flicken und …«
»Sie dient Eglon, dem Oberpriester«, unterbrach der Hauptmann die Erklärung.
»Ihr wolltet noch etwas sagen?«, wandte Taramis sich wieder an die Magd.
»Ich hatte nach dem Erwachen das Gefühl, hier um die Mittagszeit gebraucht zu werden. Mein Herr nimmt solche Ahnungen bei mir sehr ernst. Als ich ihm davon erzählte, befahl er mir, in der Nähstube zu warten, bis er mich nach der Audienz holen würde.«
»Dann seid Ihr Seherin?«
»Nein. Das zu behaupten ginge sicher zu weit. Der Oberpriester nennt es das Innere Auge, ich halte mich eher für eine Schätzerin: Mir offenbaren sich Dinge, die anderen verborgen bleiben. Ich kann Täuschungen durchschauen, spüre losgelöst vom Strom der Zeit die Bedeutung von Orten, Gegenständen oder Lebewesen. Und manchmal sehe ich, was nicht gesehen werden will.« Sie schmunzelte.
»Ihr seid Selvya, nicht wahr?«
»Ja, Herr …« Sie horchte unvermittelt auf und ihr Blick huschte zum Korridor hin. »Gehen wir lieber ein Stück von der Tür weg, damit die Palastwache uns nicht hört«, flüsterte sie. Ihr war keine Spur von Verwunderung darüber anzumerken, dass ein Fremder ihren Namen kannte. Nachdem sie die Männer zu der großen Kleidertruhe geführt hatte, sagte sie zu Taramis: »Ihr seid vorhin schon einmal draußen im Gang gewesen.«
Ihn schauderte. »Ich hatte gleich das Gefühl, dass Ihr mich sehen konntet.«
Ein hübsches Lächeln erschien auf ihrem sommersprossigen Gesicht. »Mein Herr meint, ich könne sehen, was wirklich war, wirklich ist und was wirklich sein wird.« Selvya zuckte die Achseln. »Dummerweise ist mir nie bewusst, ob ich gerade in die Vergangenheit oder die Zukunft blicke.«
»Ich bin froh, dass Ihr uns nicht an die Gardisten verraten habt.«
Sie strich sich eine rote Strähne aus dem Gesicht und runzelte die Stirn. »Warum sollte ich jemanden ans Messer liefern, der nichts Böses im Schilde führt?«
»Ihr habt zwar recht – wir kämpfen auf der Seite des Lichts –, aber wie konntet Ihr Euch dessen so sicher sein?«
»Wie gesagt, ich sehe, was wirklich ist. Eine Schätzerin blickt nicht nur aus dem Verborgenen heraus, sondern auch ins Verborgene hinein.«
»Ihr seid ein sonderbares Mädchen, Selvya.«
Sie senkte verlegen den Blick.
Taramis bemerkte aus den Augenwinkeln eine Bewegung an der Tür. Zur winkte ihm aufgeregt zu. In der zeridianischen Zeichensprache meldete er: Die Palastwache hat mit der Durchsuchung der Räume begonnen . Taramis nickte und wandte sich wieder an die Magd. »Wir sitzen hier in der Falle, Selvya. Die Kammer verfügt nicht zufällig über ein Versteck?«
Sie schmunzelte. »Sogar etwas viel Besseres.«
Aus dem Korridor war ein Pochen zu vernehmen. Zur signalisierte von der Tür: Sie sind jetzt nebenan. Gleich kommen wir an die Reihe .
»Was ist es?«, fragte Taramis ungeduldig. Er hörte das Klappern von Rüstungen vor der Tür.
»Ein Geheimgang …« Selvya hielt inne, weil sich plötzlich neben ihnen wie von Geisterhand die Kleidertruhe öffnete. Zum Vorschein kam ein Kahlkopf, den Taramis bereits kannte. Es überraschte ihn allerdings, dass auch sein Meister für den Mann kein Fremder war.
»Eglon?«, entfuhr es dem Hüter verwundert.
Der Priester verzog den Mund, wohl ob der seltsamen Umstände ihrer Begegnung. Während er seinen stattlichen Körper aus der Kiste zwängte, machte er seiner Erleichterung Luft. »Marnas! Gepriesen sei Gao, dass ich Euch und Eure Männer unversehrt sehen darf. Ich hatte schon befürchtet, Ihr würdet einem Weib nicht trauen. Steigt
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