Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
rasch die Treppe hinunter. Ich bringe Euch an einen sicheren Ort.«
»Moment!«, murmelte Taramis. Was, wenn Eglon sie mit seinem merkwürdigen Auftritt überrumpeln und in eine Falle locken wollte? War dem engsten Ratgeber Lebesis zu trauen?
Zur eilte herbei und raunte aufgeregt: »Hier wimmelt’s gleich von Wachen. Willst du kämpfen, Taramis, oder dem Priester folgen?«
»Alle runter in den Gang«, befahl Taramis.
Während die Männer in die Truhe stiegen, sprach der Oberpriester von Komana leise mit der Magd. »Du bist ein tapferes Mädchen, Selvya. Wenn wir unten sind und ich den Boden der Kiste geschlossen habe, füllst du sie mit Stoffen. Danach klappst du den Deckel zu. Sag den Gardisten, du hättest fremde Krieger im Park gesehen. Das wird sie von hier fortlocken. Meinst du, du schaffst das?«
Sie nickte beklommen.
Taramis wartete, bis seine Gefährten über steile Stufen ins Dunkel des Geheimganges hinabgestiegen waren. Bevor er ihnen folgte, ergriff er Selvyas Hand und drückte sie. »Gao segne Euch. Danke. Und geht bitte kein unnötiges Risiko ein.«
Scheu schlug sie die Augen nieder.
Zuletzt kletterte der Priester in die Truhe. Sein großer, stämmiger Leib schirmte fast alles Licht ab. Als er die Luke im Kistenboden schloss, wurde es stockfinster.
Ein Fingerschnippen erklang in der Dunkelheit, dann sprang eine kleine Flamme von Eglons Hand auf eine Fackel über. Das aufflackernde Licht beleuchtete ein Gesicht, das trotz eines verlegenen Lächelns unheimlich wirkte. »Zum Feuermachen reicht mein Wille gerade noch«, erklärte der Priester. »Der Höchste hat mich mit der Gabe gesegnet, die Gefühle anderer in Energie zu verwandeln – für einen Seelenhirten eine durchaus nützliche Eigenschaft.«
»Wo führt der Geheimgang hin?«, fragte Taramis und deutete in die Dunkelheit.
»Er stammt noch aus der Zeit, als an dieser Stelle ein Heiligtum Gaos stand. Jenseits des Baumkreises, der heute den Palast umgibt, steht in einem Hain das Grabhaus der Oberpriester von Komana. Der Tunnel mündet in die Krypta. Hauptmann Oban dürfte seit Jahrhunderten der erste Gardist sein, der von dem unterirdischen Grabraum erfährt.«
»Für die Regentin bin ich ab sofort ein Verräter und kein Leibwächter mehr«, sagte dieser zerknirscht.
Taramis klopfte ihm auf die Schulter. »Es scheint Lebesi nicht zu kümmern, dass Gaos Tempel von Götzenanbetern entweiht wurde. Sie denkt nur an ihre eigene Macht. Ihr habt Euch für die richtige Seite entschieden, mein Freund.«
»Das denke ich auch«, pflichtete ihm Eglon bei. Wenn er sprach, hörte es sich so an, als steckten ihm zwei Finger in der Nase. Mit der Fackel deutete er in den Tunnel, der aus dem massiven Fels herausgehauen war. »Ich gehe voran.«
Im Gänsemarsch folgten sie dem Priester in den schnurgeraden Geheimgang. Taramis meinte, ein leichtes Gefälle zu bemerken. Etwa eine Viertelmeile später hatte der Tunnel seinen tiefsten Punkt erreicht und knickte nach links ab. Danach setzte er sich ungefähr noch einmal so lange fort, bis er an eine Mauer stieß.
Eglon zog an einem Hebel.
»Was rauscht da?«, flüsterte Zur.
»Sand. Er füllt ein Gegengewicht zum Öffnen der Tür. Mit Wasserkraft wird alles wieder in die Ausgangsstellung zurückbewegt. Ein kluger Kopf muss sich das ausgedacht haben.«
»Vielleicht derselbe, der die heiligen Stätten auf Jâr’en gebaut hat. Dort gibt es ähnliche Mechanismen«, erinnerte sich Taramis. Die geheime Tür im Allerheiligsten von Beth Gao wurde auch mithilfe von Wasser bewegt.
Mit schabendem Geräusch begann sich ein mannshoher Teil der Wand um seine Längsachse zu drehen. Ein muffiger Geruch schlug ihnen entgegen.
Der Priester ging mit der Fackel durch die Öffnung voraus. Der Raum dahinter war achteckig, maß etwa zwanzig Fuß im Durchmesser und zehn in der Höhe. Eine steinerne Wendeltreppe in der Mitte führte in das Grabhaus hinauf. Die Wände der Krypta waren übersät mit länglichen Nischen. Taramis näherte sich einer der horizontalen Vertiefungen, deren Inhalt er im unsteten Feuerschein nur erahnen konnte.
»Sehen aus wie Fenster«, murmelte Zur.
»Ja, Fenster ins Haus der Toten.« Beklommen blickte Taramis in die leeren Augenhöhlen eines Schädels. Er war nicht wirklich überrascht, ein Skelett vorzufinden. Dem halb verfallenen Leinengewand nach zu urteilen, handelte es sich um einen Priester Gaos. Auch die anderen Mulden bargen die sterblichen Überreste heiliger Männer.
»Es wäre unklug, das
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