Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
entgeisterten Miene Tagors nach zu urteilen, hatte er nicht gewusst, dass der junge Tempelwächter ein Fernwirker war. Das gesprengte Schloss argwöhnisch beäugend, trat er in den Zellengang.
»Wo ist die Hauptachse, von der Ihr gesprochen habt? Der Flur, den alle Gefangenen durchqueren müssen?«, flüsterte Taramis.
Tagor deutete nach links. »Da ist aber auch die Wachstube. Wenn der Kerkermeister Alarm gibt, wimmelt es binnen weniger Augenblicke hier nur so vor Wachen.«
»Falls das zum Problem wird, kümmern wir uns darum. Bleibt immer dicht hinter mir. Wenn ich Euch etwas frage, antwortet schnell, genau und leise. Verstanden?«
Der Kirrie nickte.
Abgesehen vom Wechsel an der Spitze des Zuges bewegte sich dieser in derselben Ordnung wie schon in den oberen Tunneln durch den Gang. Bald tauchte vor ihnen der breitere, von Kaltem Feuer beleuchtete Flur auf, die sogenannte »Hauptachse« des Kerkers. Tagor und Gabbar bedeckten ihre Lichtsteine.
Taramis befreite Ez aus seiner Umhüllung und schlang sich das Futteral als Gürtel um den Leib. Dann spähte er um die Ecke in den schnurgeraden Korridor.
Von einem Ende bis zum anderen mochte dieser einhundert Schritte messen. Der Nebentunnel mit den Eindringlingen befand sich ziemlich genau in dessen Mitte. Die Wachstube lag laut Tagor rechts im hinteren Drittel des Hauptgangs.
Taramis sammelte abermals seinen Willen, diesmal bemühte er die Gabe des Fährtenglühens. Wenn Eli und Shúria tatsächlich hier irgendwo im Kerker schmachteten, dann mochten sie die Hauptachse vor vierzig Tagen durchschritten haben. Unter normalen Umständen war eine Fährte nach so langer Zeit kaum mehr wahrnehmbar. Andererseits lag das Verlies fernab von störenden Einflüssen wie dem Sonnenlicht und dem Äther. Einen Versuch ist es allemal wert, dachte Taramis.
Und wirklich! Auf dem Boden leuchteten ein paar glitzernde Krümel auf, genug, um sein Herz vor Aufregung wild schlagen zu lassen. Er zog den Kopf zurück, drehte sich um und winkte die Gefährten heran, damit sie sein Flüstern verstehen konnten. »Sie waren tatsächlich hier! Die Spur führt zu einem Durchgang auf der linken Seite«, berichtete er flüsternd.
»Da geht es zu den unteren Geschossen«, erklärte Tagor leise.
Taramis sah Masor an. »Der Boden im Gang ist staubig. Kannst du damit etwas anfangen, damit wir nicht zufällig von jemandem aus der Wachstube entdeckt werden?«
»Findest du eine Nebelbank in einem Verlies unauffällig?«, fragte der Hauptmann der Tempelgarde skeptisch.
»Zumindest dürfte sie Verwirrung stiften und das könnte uns Zeit verschaffen.«
»Ich will sehen, was ich tun kann. Vielleicht tappen wir gleich alle im Nebel. Die Bedingungen sind nicht sonderlich günstig.«
»Besser blind als tot.«
Die beiden tauschten die Plätze und Masor breitete seinen Willen über den Staub aus. Binnen weniger Augenblicke entstand zwischen der Wachstubentür und dem Quertunnel eine wabernde Dunstschicht, die rasch in die Höhe wuchs. Als sie fast die Decke erreicht hatte, tauchten die Gefährten darin ein.
Der Nebel war so dicht, dass sie sich an der Wand entlangtasten mussten, um den Niedergang nicht zu verpassen. Sobald sie sich dort gesammelt hatten, löste Marnas den verräterischen Dunst wieder auf.
Vor ihnen lag eine eckige Wendeltreppe, die in die Tiefe führte. Taramis setzte sich erneut an die Spitze des Zuges. Das schwache Funkeln der Fährte wies ihm den Weg. Bereits im dritten Untergeschoss betrat er einen Gang, der wohl direkt unter der Hauptachse lag. Weniger lang und breit als diese, bildete er das Rückgrat eines weit verzweigten Netzes von kleinen Tunneln mit zahllosen Kerkerzellen. Die eisenbeschlagenen Türen mit verriegelbaren Sichtschlitzen in Kirrieaugenhöhe standen meistens offen.
»Warum sind hier nirgends Wachen?«, flüsterte Taramis.
»Weil der einzige bekannte Zugang an der Wachstube vorbeiführt«, antwortete Tagor.
»Nicht einmal Euer Nachfolger kennt die Geheimtür, durch die wir reingekommen sind?«
Der Kirrie schüttelte grinsend den Kopf. »Außerhalb meiner Familie dürfte davon heute niemand mehr wissen. Übrigens, ich kann mir jetzt denken, wo wir den Hohepriester finden. Hier geht es zur Fürstengruft.«
Taramis blieb überrascht stehen. »Ihr meint, sie haben Eli und Shúria in ein Grab gesperrt?«
Tagor kicherte. »Nein. Man nennt die Zelle nur so, weil darin mancher Kirrie von edler Herkunft seine letzten Tage verbracht hat. Manchmal ziemlich viele letzte
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