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Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt

Titel: Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Tage. Die Könige haben in den vergangenen Jahrhunderten gelegentlich ihre Widersacher dort eingesperrt: entmachtete Thronräuber, rebellische Stammesfürsten, Ränkeschmiede aus der eigenen Familie. Das Gelass ist im Vergleich zu den anderen recht großzügig ausgestattet.«
    Die glitzernde Spur bog in einen weiteren Nebengang nach rechts ab, und danach führte sie in einen kurzen Tunnel mit gewölbter Decke zur Linken. Nach wenigen Schritten endete sie vor einer mit Eisenblech verkleideten Tür, die offensichtlich jüngst instand gesetzt worden war.
    Am liebsten hätte Taramis sie vor freudiger Erregung sofort aufgesprengt, doch er wollte das Unternehmen nicht durch Gedankenlosigkeit gefährden. Deshalb beugte er sich zunächst nur zu dem rechteckigen Fenster herab, öffnete leise den Riegel, schob behutsam die Abdeckung zur Seite und spähte in das von Kaltem Feuer beleuchtete Gelass.
    Sein Herz begann heftig zu schlagen. Mit dem Rücken zu ihm, den Oberkörper zur Seite geneigt, stand eine junge Frau. Ihr seidiges, langes schwarzes Haar fiel bis zur Mitte des Rückens herab. Sie trug ein knöchellanges Gewand. Das feine, hellblaue, in hauchzarten Falten fallende Tuch und die Gürtelschärpe betonten ihren weiblichen Formen, ohne aufreizend zu wirken – unzüchtige Kleidung stand einer luxanianischen Seherin nicht an, und für die Tochter des Hohepriesters war Sittsamkeit ohnehin oberstes Gebot.
    Taramis schloss die Augen, weil Shúrias Anblick nicht nur Freude, sondern zugleich tiefen Schmerz in ihm heraufbeschwor. Im Geist sah er sie weiterhin vor sich, sogar deutlicher als zuvor. Mehr noch als ihre anmutige Gestalt wühlte ihr schönes Gesicht ihn auf. Es erschien ihm wie eine vertraute Landschaft, wie heimatliche Gefilde, nach denen man sich in der Fremde gesehnt hatte. Der feine Ufersaum ihrer schwarzen Brauen an den beiden mandelförmigen Seen der orangegelben Augen, die sanften, schattigen Täler unter den Erhebungen ihrer Wangenknochen, der runde Vorsprung ihrer kleinen Nase, der sinnliche Mund und das sanft gerundete Kinn … Wie ähnlich sie ihrer vier Jahre älteren Schwester geworden war! Er meinte, Xydia vor sich zu sehen.
    Shúria hatte sich dem Hohepriester zugewandt, der rechts in einem Lehnstuhl saß. Mit dem Übermut einer Achtzehnjährigen schlug sie zwei Lichtsteine aneinander. Klack, klack, klack! »Siehst du, Vater, gleich wird’s wieder heller.« Klack, klack, klack! Das Kalte Feuer warf seinen orangeroten Schein auf den alten Mann.
    Eli war ganz in Weiß gekleidet, die Farbe der Reinheit und Heiligkeit. Sein bärtiges, rundes Gesicht lächelte dankbar. Es war ein trauriges Lächeln. Er wirkte müde und niedergebeugt, sein dunkelbraunes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar schütterer als zuvor. Taramis meinte ihm anzusehen, wie schwer die Trauer um Xydia und die Sorge um das Haus Gaos auf ihm lasteten.
    Es war höchste Zeit, die zwei zu befreien. Taramis drehte sich zu seinen Freunden um. »Außer den beiden ist niemand in der Zelle. Tretet von der Tür zurück.«
    »Bitte überlasse mir diese Aufgabe«, sagte Marnas. »Durch mein Versagen sind sie in diese Lage gekommen. Zwar kann ich das erlittene Leid nicht rückgängig machen, doch wenigstens die Tür zur Freiheit möchte ich für sie öffnen.«
    Taramis ließ ihn vortreten. Er hatte seinem väterlichen Freund in den vergangenen Wochen oft gesagt, dass ihn am Überfall auf Jâr’en keine Schuld treffe. Wenn ihm diese Tat Erleichterung verschaffte, dann war das Taramis nur recht.
    Marnas überstürzte nichts. Zunächst untersuchte er das Schloss und die Scharniere. Danach strich er mit den Fingerkuppen entlang des Rahmens über die Tür. Vermutlich suchte er nach verborgenen Ankern und Riegeln. Mithilfe seiner Gabe konnte er nicht nur aus der Ferne auf stoffliche Dinge einwirken, er vermochte sie auch zu ertasten. Endlich nickte er und schloss die Augen.
    Gleich darauf war ein metallisches Knirschen und Ächzen zu vernehmen. Die schwere Tür begann zu zittern. Teile der steinernen Umfassung zerbröselten und rieselten zu Boden. Plötzlich ertönte ein gedämpfter Knall. Die Tür löste sich wie von unsichtbarer Titanenhand gehoben aus dem Rahmen, schwebte etwa zwei Schritte weit in den Gang hinein, drehte sich dabei parallel zur Wand und lehnte sich gegen sie.
    Taramis stürzte in die Zelle, kaum dass der Weg frei war. Tagor, Pyron, Zur, Masor, Gabbar und zuletzt auch Marnas folgten ihm.
    Das Mädchen stand jetzt mit dem Gesicht

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