Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
Breschen in das Bollwerk der Tempelwächter. Manche fielen scheinbar ohne Gewalteinwirkung – ein sicheres Zeichen für den Einsatz mentaler Waffen. Am liebsten hätte sich Taramis sofort ins Schlachtgetümmel gestürzt. Er wollte seine Kameraden nicht im Stich lassen. Aber hieße das nicht, Xydia diesen bärtigen Barbaren auszuliefern? Nein, zuerst brauchte er Gewissheit. Er musste das Mädchen finden.
Ein Pfeil zischte an seinem Kopf vorbei. Man hatte ihn entdeckt. Rasch ließ er die Lenkriemen fallen und löste den gewölbten Schild Schélet vom Sattel. Seine Schenkel schmiegten sich um den Halsansatz des Mamoghs. Es fühlte sofort, was er von ihm wünschte und stieg etwas höher. Taramis wollte sich zunächst einen Überblick vom Geschehen innerhalb des steinernen Ringwalls verschaffen.
Allons Schatten wischte über die Kämpfenden am schmalen Ufer hinweg. Er streifte die Mauerkrone oberhalb des gänzlich unversehrten, weit geöffneten Tores und verdunkelte gleich darauf die Flachdächer des Tempelkomplexes.
Im Herzen des Areals stand Beth Gao, ein monumentaler sandfarbener Quaderbau. Das zwanzig Fuß hohe, von zwei mächtigen Kupfersäulen flankierte Bronzetor des Gotteshauses stand offen. Wie ein monströses Zyklopenauge blickte das schwarze Loch auf den rechteckigen Vorplatz hinaus, dessen Mitte ein kolossaler Gedenkstein aus Aschmur markierte.
Seit alters her symbolisierte der Kristall den Nabel der Welt. Ihren dunkelsten Tiefen sei er entrissen worden, als sie zerbarst, las man im Buch Jaschar . Ein Engel des Höchsten habe ihn hiernach zur Erinnerung an die Weltenheilung im Wald der Quelle errichtet. Viereinhalb Jahrtausende hatte er hier gestanden. Jetzt war er gestürzt.
Der Anblick des gefällten Riesen versetzte Taramis einen Schock. An dem fünfzehn Fuß langen Stein hingen noch dicke Taue. In seiner Nähe hielten sich ein halbes Dutzend Antische und fünfzig oder sechzig Kirries auf. Die Eindringlinge hatten die heilige Säule des Bundes mit voller Absicht entweiht. Dahinter steckte mehr als Siegerwillkür und Machtgehabe. Der Frevel war eine Botschaft an die Anbeter Gaos: Seht her! Wir haben euren Gott vom Thron gestürzt. Ihr Menschenvölker seid dem Untergang geweiht. Entweder unterwerft ihr euch Dagons Macht oder ihr werdet alle sterben.
Zornig schüttelte Taramis den Kopf, als könne er Gulloths Fluch damit abwerfen. Die Unheil verkündenden Worte ließen sich aber nicht aus dem Sinn verbannen. Dir wird das Liebste genommen, das du besitzt … Wo war Xydia? Er musste sie finden.
»Dreh eine Schleife, Allon.« Seine Stimme unterstrich nur den Befehl, den das Mamogh längst erspürt hatte. Während es mit ausgebreiteten Schwingen seine Kreise zog, suchte Taramis nach seiner Verlobten.
Um den zentralen Hof herum gruppierten sich die dem heiligen Dienst gewidmeten Gebäude: Schatzhaus, Skriptorium, Speisesäle, Unterweisungsräume und auch die Quartiere der Priester und ihrer Angehörigen. In einer zweiten Reihe dahinter lagen die Unterkünfte der Ganesen und der Tempelwächter.
Letztere standen in Flammen. Bestimmt hatten die Angreifer sie zur Ablenkung der Garde in Brand geschossen. Offenbar waren sie danach kampflos in den Bezirk gelangt. Jemand musste ihnen das Tor geöffnet haben.
Nirgends entdeckte Taramis eines jener leuchtenden Gewänder, die Xydias heiteres Wesen so trefflich erstrahlen ließen – Gelb war ihre Lieblingsfarbe. Stattdessen sah er nur erbitterte Kämpfe, die überall zwischen den Gebäuden tobten. Wiewohl ihm das Gewissen schlug, weil er nicht in das Geschehen eingriff, verschloss er seine Ohren vor den Schreien der Kameraden. Erneut wandte er sich dem Zentrum zu. Es war höchste Zeit, mit den Eindringlingen auf Tuchfühlung zu gehen.
Seinen geflügelten Freund in dem Kampfgetümmel landen zu lassen, wäre Wahnsinn gewesen. Die Freifläche rund um den Monolithen war nach wie vor kirrieverseucht. Und zwischen den Häusern konnte sich das Mamogh weder richtig verteidigen, noch ungehindert aufsteigen. Er würde abspringen müssen. Am besten auf dem Gebäude, in dem er mit der Suche beginnen wollte. Vielleicht hatte Xydia ihm dort eine Nachricht hinterlassen.
Das dreistöckige Haus des Hohepriesters stieß gegenüber von Beth Gao an die Stirnseite des Zentralplatzes. Sicher hatte es weit oben auf der Plünderliste der Freibeuter gestanden. Während Taramis darauf zusteuerte, zählte er ein halbes Dutzend Piraten auf dem flachen Dach. Sie waren ausnahmslos bärtig,
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