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Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt

Titel: Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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– das Symbol göttlicher Gegenwart. Jedes Himmelswesen hatte sechs Flügel und, so stand es im heiligen Buch, vier Gesichter: das eines Menschen, Löwen, Adlers und Stiers. Was hatte Marnas gesagt? Folge dem Schechináh-Licht.
    Auf leisen Sohlen durchquerte er den Raum. Bis auf einen Altar in der Mitte war das Allerheiligste leer. Der Kubus hatte eine Kantenlänge von drei Ellen und bestand aus massivem Gold. Während Taramis auf den Wandteppich mit den Cheruben zulief, fragte er sich, was ihn dahinter erwartete. Zweifellos eine Geheimtür. Aber wie war sie gesichert? Würde er sie öffnen können? Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel.
    Unvermittelt hob sich das schwere Tuch und eine ihm gut bekannte, mollige Zeridianerin mit sehr langem, dunkelbraunem Haar kam zum Vorschein: Naría, die Kindermuhme und Lehrerin von Elis Töchtern, deren Mutter kurz nach der Geburt von Shúria gestorben war. Als sie die Tote in den Armen des Tempelwächters sah, verdüsterte Gram ihr gutmütiges Gesicht. Sie öffnete den Mund, wohl um ihrem Kummer Ausdruck zu verleihen.
    »Pscht!«, flüsterte Taramis rasch. »Da kommen Dagonisier. Bringt mich schnell nach unten.«
    Naría war Mitte vierzig, ein herzensguter Mensch, der im Leben schon manche Krise gemeistert hatte. Sie verlor selten die Fassung. Ohne lange zu fragen, hob sie den Wandbehang hoch. Als der Tempelwächter sich ihr mit seiner Last näherte, ging sie respektvoll auf Abstand zum Stab Ez, so als misstraue sie ihrem innersten Ich.
    Taramis bugsierte den leblosen Körper durch die Geheimtür. Seine Muskeln brannten unter der Anstrengung. Der Durchgang führte auf ein kleines gemauertes Podest, dem sich eine aus dem Fels gehauene Treppe anschloss. In einem Eisenring an der Wand stak eine Fackel. Ihr unstetes Licht beleuchtete einen schmalen Niedergang, der nach wenigen Stufen in undurchdringliche Finsternis abtauchte.
    Naría hatte den Teppich hinter Taramis sofort wieder fallen gelassen und betätigte nun einen Hebel. Mit kaum hörbarem Knirschen schloss sich eine Tür. Sie bestand aus den gleichen massiven Quadern wie die Mauer und würde sich darin so gut wie nahtlos einpassen.
    »Ich hatte gehofft, den Hüter noch einzuholen, stattdessen bist du jetzt da«, sagte die Kindermuhme leise. Sie streichelte mit schmerzvoller Miene Xydias Gesicht und murmelte: »Mein kleines Mädchen. Wer hat dir das nur angetan?«
    »Solltet Ihr nicht im Versteck bleiben?«, wunderte sich Taramis. Der Anblick des ehemaligen Kindermädchens versetzte ihn für die Dauer eines Herzschlags in eine sorglosere Zeit. Er spürte wieder das Ziehen am rechten Ohr, das Naría mit Vorliebe in die Länge gezogen hatte, wenn er Elis Töchtern Dummheiten beibrachte.
    »Natürlich hat Marnas uns das befohlen«, antwortete sie. »Du kennst ihn besser als ich. Aber deine Mutter ist aufgewacht. Ich fürchte …« Sie riss die Fackel aus der Halterung. »Komm, und sieh.«
    Mit bangem Gefühl im Magen und erlahmenden Armen folgte er ihr in die Tiefe. Er zählte nicht die Stufen. Sein Blick lag auf Xydias Antlitz, das nicht einmal der Tod entstellen konnte.
    Die Treppe stieß auf einen etwa sieben Fuß breiten Tunnel mit grob behauenen Felswänden. Naría deutete auf den Boden. »Besser, du lässt unseren Schatz hier. Du kannst nachher von ihr Abschied nehmen. In den Kammern ist zu wenig Platz, und ihr Anblick würde die Brüder und Schwestern nur noch mehr entmutigen.«
    Taramis zögerte.
    »Ich kümmere mich um sie«, versprach Naría. »Wir nehmen sie heute Nacht mit. Es gibt einen geheimen Ausgang am See. Marnas hat uns befohlen, in den Garten der Seelen zu fliehen, sobald es dunkel geworden ist. Dort werden wir das Mädchen begraben.«
    Er gehorchte, so wie er es meistens getan hatte, wenn diese Frau ihm Anweisungen gab. Den Stab Ez, Schwert und Schild legte er neben die Leiche. Zärtlich liebkoste er die Wange der Toten und küsste ihre Stirn, als wäre es der letzte Abschied. Dann folgte er Naría in den Gang.
    Sie liefen nur wenige Schritte und nach einem Abzweig noch einmal ungefähr weitere dreißig, bis sie ein niedriges Gewölbe betraten. Offenbar hatte man es aus dem steinernen Wurzelstock der Insel herausgehauen oder eine bestehende Höhle erweitert.
    Der von wenigen Öllampen schwach erhellte, annähernd runde Raum war voller Menschen. Er maß etwa fünfzig Fuß im Durchmesser. Es roch nach so ziemlich allem, was menschliche Körper absondern konnten. Die stickige Luft vibrierte vom Wimmern der

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