Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
ist erst jetzt klar geworden, wie sehr du sie geliebt hast. Dein ständiges Gerede von ihr war für mich nur Schwärmerei – viele deiner Kameraden haben Elis Töchter angehimmelt. Trotzdem solltest du in deiner jetzigen Verfassung nicht kämpfen. Du bist nicht Herr deiner Sinne und …«
»Herr genug, um den Fischköpfen eine Lektion zu erteilen«, unterbrach ihn Taramis zornig und deutete auf die Leiche. »Seht Ihr die Wunde, Meister? Man könnte meinen, ein Arzt habe sie ihr beigebracht. Wahrscheinlich hat es nicht einmal gespritzt, als das Schwert sich in ihren Unterleib bohrte und sofort wieder herausgezogen wurde. Wer immer das getan hat, er wusste genau um das Gift in unserem Blut. Es war kaltblütiger Mord. Habt Ihr gesehen, wer es war? Er soll den gleichen Tod erleiden.«
»Nein«, antwortete der Hüter. »Ich hatte den Hohepriester mit seinen Töchtern und deiner Mutter vorgeschickt, um den geheimen Fluchtweg zu öffnen. Als ich mit den anderen Frauen, Kindern und Männern nachkam, war sie schon tot. Wir hatten nicht einmal Zeit, ihre Leiche zu bergen, weil uns die Kirries auf den Fersen waren.
Taramis erschrak. »Meine Mutter? Wo ist sie? Wie geht es ihr?«
»Wärst du mir nicht ins Wort gefallen, wüsstest du es bereits.« Marnas deutete mit bitterer Miene zum Allerheiligsten. Seine Stimme bebte. »Sie ist verletzt. Eine Schwertwunde. Ich habe sie nur wenige Schritte von hier gefunden. Besinnungslos. Es sieht ernst aus.«
Für Taramis schien sich erneut der Boden unter den Füßen aufzutun. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Erst Xydia und jetzt seine Mutter? Es kam ihm vor, als lodere im Innern seiner Seele ein Feuer, das ihn zu verzehren drohte. Trotzdem entging ihm nicht die Qual, die auch in den tiefbraunen Augen des Hüters glomm. »Ich wusste nicht, dass meine Mutter Euch so sehr am Herzen liegt.«
»Du weißt so vieles nicht, Taramis: von deinem Vater, deiner Mutter, den Töchtern des Hohepriesters und von mir. Für mich bist du immer der Sohn gewesen, den ich nie gehabt habe. Ich liebe deine Mutter. Irgendetwas hinderte sie daran, meine Gefühle zu erwidern, obwohl auch sie Zuneigung für mich empfand. Sie hielt es für besser, manche Dinge von dir fernzuhalten, bis …« Marnas schüttelte verzweifelt den Kopf. »Dafür ist jetzt keine Zeit. Es bringt mich fast um, wieder mit dem Schwert hinauszumüssen, während sie da unten liegt und womöglich stirbt. Geh du zu ihr. Steh ihr bei. Wenn sie dich sieht, gibt ihr das neue Kraft.«
Was konnte Taramis darauf noch erwidern? Er wollte Xydias Mörder jagen – falls nötig bis ans Ende der Welt –, aber zunächst musste er seiner Mutter beistehen.
Marnas zog sein Schwert. Während er sich rückwärts auf den Ausgang zubewegte, deutete er auf das Allerheiligste. »Geh schon, Taramis. Wenn du über Lasia wachst, kann ich mich um den Feind kümmern.« Er drehte sich um und lief aus dem Tempel.
Der Mann mit dem Feuerfischschwert
S ein tränenverhangener Blick ruhte auf der Leiche im gelben Gewand, diesem noch im Tode verzaubernd schönen Gefäß der Liebe und Fröhlichkeit. Wer hatte es zerstört?
Taramis fühlte sich ausgebrannt. Es erschien ihm undenkbar, jemals wieder Freude zu empfinden. Sein Lachen war mit Xydia gestorben. Die Knöchel an seiner Rechten traten bleich hervor, weil er den Schaft des Stabes so fest umklammerte. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er schüttelte den Kopf. Nein, sie durfte nicht dort liegen bleiben wie der Kadaver einer erschlagenen Hündin.
Vom Tempelvorhof drangen Stimmen ins Heilige, die gutturalen Rufe von Antischen.
Er hängte sich rasch den Schild über den Rücken und kniete neben dem Leichnam nieder. Behutsam, so als schliefe Xydia nur, hob er sie auf. Den Stab schob er unter ihren Körper, damit er beides tragen konnte. So eilte er mit der Toten ins Allerheiligste.
Kaum hatte er den schweren, golddurchwirkten Vorhang durchquert, der den inneren Tempelraum vor Blicken von draußen abschirmte, rief ein Dagonisier: »Hier ist niemand, Herr.«
»Aber da hat jemand geschrien. Durchsucht alles.«
Taramis sah sich gehetzt um. Er wusste zwar um die geheimen Kammern, hatte diese aber nie gesehen – in Friedenszeiten durfte ja nur der Hohepriester das Allerheiligste betreten.
Sein Blick schweifte über die hohen Wandbehänge, die an allen vier Seiten die Wände zierten. Gegenüber dem Durchgang waren zwei einander zugewandte Cherube dargestellt, die gemeinsam das strahlende Licht Schechináh hielten
Weitere Kostenlose Bücher