Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
Kinder und Stöhnen der Verletzten. Hier und da wurde leise gesprochen. Taramis suchte seine Mutter. Sein Blick wanderte über ängstliche, schmutzige Gesichter. Er kannte jedes einzelne. Nie hatte er sie so starr, die Augen so leer gesehen. Welches unsagbare Leid mussten sie erblickt haben!
»Sie liegt dahinten«, sagte Naría und zog den Tempelwächter am Ärmel zu einer Stelle an der Wand links vom Eingang. »Wir haben ihre Wunde verbunden, aber sie hat viel Blut verloren. Zu viel, fürchte ich. Bithya ist bei ihr.«
Taramis fand seine Mutter auf einem Lager aus Tüchern. Sie hielt die Augen geschlossen und war bis zum Kinn zugedeckt. An ihrer Seite saß ein Mädchen in Shúrias Alter, die Tochter eines Priesters, wie er sich erinnerte. Es tupfte ihr mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Als es ihn bemerkte, stand es sofort auf, drückte ihm tröstend den Arm, schüttelte fast unmerklich den Kopf und zog sich zurück.
Er sank neben Lasia auf die Knie und ergriff ihre Hand. »Mutter?«
Ihre langen schwarzen Wimpern begannen zu zittern. Es dauerte eine Weile, bis sie ihn ansehen und ein schwaches Lächeln hervorbringen konnte. »Taramis! Ich habe zu Gao gebetet, dich noch einmal sehen zu dürfen. Hast du das Phantom gefunden?«
»Es war ein Seelenfresser, ein Feuermensch aus Dagonis. Sein Kopf steckt jetzt auf einer Stange in deinem Heimatdorf.«
»Das wird Zorbas freuen.«
»Wie geht es dir, Mutter?«
Unter Mühen lächelte sie ein weiteres Mal. »Ich bin sehr müde, und mir ist so kalt. So fühlt es sich wohl an, wenn man stirbt.«
»Du hat nur viel Blut verloren. Bald wirst du wieder …«
»Nein, mein Lieber«, unterbrach sie ihn sanft. »Er wusste, was er tat, als er Xydia und mir das Schwert in den Leib gestoßen hat.«
»Es war derselbe?« Er musste schlucken. »Wer hat das getan, Mutter? War es ein Antisch oder ein Kirrie?«
Lasias Lider sanken flimmernd nach unten, während sie Kraft schöpfte. Erneut blickte sie zu ihrem Sohn auf. »Weder noch. Er nannte sich Purgor. Der Hohepriester hielt ihn für einen Pilger, einen alten Freund aus Gan. Ich bin sicher, dieser Mann hat in der letzten Nacht den Piraten und Fischköpfen das Tor geöffnet.«
»Ein Ganese?«, sagte er kopfschüttelnd. »Das Gartenvolk ist das friedlichste, das ich kenne.«
Seine Mutter verzog stöhnend das Gesicht. Einen Moment später entspannte sie sich wieder. »Es war nur eine Maske. Als ich ihn im Heiligen wiedersah, hatte er sein Äußeres verändert. Er glich einem Komanaer: fast so groß wie du, kräftigere Statur …« Abermals raubten ihr Schmerzen die Worte, und ihre Lider sanken herab.
Taramis biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut zu schluchzen oder gar loszuschreien. Schon der Anblick seiner Geliebten hatte ihm das Herz herausgerissen. Und nun das Leid seiner Mutter. Obwohl ihr Gerede vom Sterben ihn zermürbte, klammerte er sich mit der ihm eigenen Starrköpfigkeit weiter an die Hoffnung auf ihre Genesung. Am Gefühl der Hilflosigkeit änderte dies freilich nichts – eine höchst verstörende Erfahrung für einen unerschrockenen Krieger wie ihn.
Eine Weile hielt er nur Lasias eiskalte Hand. Erst als ihre Finger plötzlich zuckten, fragte er: »Was ist im Tempel passiert?«
Ihr Mund begann sich zu bewegen; die Augen blieben geschlossen. Taramis beugte sich zu ihr herab und neigte sein Ohr ihren Lippen zu.
»… verräterische Pilger«, hörte er sie mit schwacher Stimme sagen. »Dieser Purgor. Er muss uns entdeckt haben, als wir über den Vorhof eilten. Kaum hatten wir Gaos Haus betreten, machte uns Shúria auf das Klappern von Rüstungen aufmerksam. ›Versteckt euch in den Nischen‹, rief Eli und lief zum Portal zurück. Ehe wir Frauen uns alle verbergen konnten, stürmten auch schon Purgor und mehrere Kirries herein …« Lasia riss jäh die Augen auf.
Taramis erschrak, und als er in das von Schmerzen gezeichnete Gesicht seiner Mutter sah, schauderte ihn. Ihr starrer, glasiger Blick schien ihn zu durchdringen, um zum Ort des blutigen Geschehens zurückzukehren. Mit unerwarteter Kraft presste sie seine Finger zusammen. »Was ist dann passiert?«, drängte er sie sanft. Er wollte wissen, warum der falsche Pilger auf wehrlose Frauen eingestochen hatte.
»Purgor …« Sie sog zischend die Luft ein. »Ich nehme an, dass der Mann, der jetzt wie ein Komanaer aussah, der Pilger war – jedenfalls trug er dessen Gewand.«
»Erzähl mir mehr von ihm.«
Lasia musste mehrmals innehalten und Kraft
Weitere Kostenlose Bücher