Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
erzählt, unter der Basis des großen Steines befände sich …
Taramis’ Gedanken stockten. Es war kein Mythos! Marnas hatte die Wahrheit gesagt. Da gab es tatsächlich ein Epigraph im schalenartig ausgehöhlten Fundament des Monolithen. Die Form der Buchstaben war archaisch, doch er konnte die viereinhalbtausend Jahre alte Inschrift mühelos lesen.
Speer Jeschuruns, du ew’ger Born ,
Bringst Leben sowie Gaos Zorn ,
Hast sieben Säulen auserkor’n ,
Zum Ruh’n, die Zeit zu messen und zum Trost .
Im Berg der Engel glimmt dein Licht .
Dagonis gibt dir Gleichgewicht .
Im Sternenhaus erlischst du nicht .
»Jeschuruns Speer?«, murmelt er benommen. Dieser Begriff war Legende und seine Deutungen vielfältig: Manche sahen in ihm einen zukünftigen Retter Beriths, andere eine bestimmte Konstellation von Inseln, und der Hohepriester Eli hatte sogar einmal den Stab Ez so genannt. Vielleicht steckte die Wahrheit in allen diesen …
Ärgerlich schüttelte Taramis den Kopf, weil er sich von einem Stein aufhalten ließ, während Menschen seine Hilfe brauchten. Entschlossen brachte er Xydias Spur erneut zum Leuchten. Die Fußstapfen strebten auf den Tempel zu und verschwanden im Halbdunkel hinter den Bronzetoren, die nach innen geöffnet waren. Im Laufschritt folgte er ihnen bis zu der großen Freitreppe, über die man zum Eingang gelangte. Um nicht blindlings in eine Falle zu stürmen, drosselte er auf den Stufen das Tempo und schlich zwischen den kupfernen Säulen hindurch ins Heiligtum. Dort huschte er sofort in die Schatten zu seiner Rechten.
Der riesige Innenraum von Beth Gao war in zwei Teile untergliedert. Im hinteren Drittel befand sich das Allerheiligste, das nur zu besonderen Anlässen vom Hohepriester betreten werden durfte. Das doppelt so große Heilige davor war an den Langseiten in Nischen mit quadratischem Grundriss unterteilt. Diese zur Hauptachse der Halle hin offenen Kammern dienten der Verrichtung priesterlicher Pflichten verschiedenster Art. Die zur gegenseitigen Abgrenzung eingezogenen Trennwände verjüngten sich nach oben hin zu schmalen Stützrippen.
In Deckennähe schoss die Morgensonne durch kleine Öffnungen Lichtspeere herein. Vereinzelt trafen diese auf goldene Zierschilde, die ringsum in schwindelnder Höhe an den Wänden hingen. So entstanden gleißende Reflexionen, die überall im Raum helle Tupfen hinterließen. Ansonsten sickerte nur wenig Licht bis ganz nach unten.
Im Heiligen herrschte Totenstille. Die Luft war schwer von Rauch. Offenbar hatten die Eindringlinge Brandpfeile durch die Fenster geschossen. Glücklicherweise war die hölzerne Trennwand zwischen den beiden Abteilungen des Tempels nicht in Brand geraten. Bis auf einen verkohlten Schaubrottisch in der Nähe des Durchgangs zum Allerheiligsten und einige geschwärzte Stellen am Boden ließen sich keine größeren Feuerschäden ausmachen. Hier und da lagen goldene Leuchter, Dochtscheren und andere Sakralgeräte herum. Seltsam, dass die Freibeuter sie nicht mitgenommen hatten.
Taramis wagte nicht, Xydias Namen zu rufen. Durch die Seitenkammern war das Heilige unüberschaubar. Überall konnte der Tod lauern. Den funkelnden Fußstapfen folgend, schlich er zunächst weiter nach rechts und dann auf das Allerheiligste zu. Dabei suchten seine scharfen Augen jedes Versteck ab. Er traute der Stille nicht.
Als er sich einer Stelle näherte, die das von den Zierschilden reflektierte Sonnenlicht aus dem Halbdunkel schälte, entdeckte er am Boden ein Paar Füße. Nackt, schmutzig und starr ragten sie aus der letzten Nische heraus. Davor lag ein umgefallener Hocker, der sie lange vor dem Blick des Suchers verborgen hatte. Sie waren zierlich, die Sohlen nach oben gerichtet – eine Frau, die auf dem Bauch lag. Taramis erschauderte. Sein Herz begann zu rasen.
Schnell, aber immer noch leise, näherte er sich der Trennwand, hinter der die Unbekannte Schutz gesucht hatte. Oder war sie dorthin geworfen worden, nachdem …?
Ihre Waden kamen zum Vorschein, wohlgeformt und fest wie bei einem Mädchen. Sein Puls beschleunigte sich. Ihm brach der Schweiß aus. Er zwang sich weiterzugehen und erblickte als Nächstes den Saum eines Gewandes.
Es war gelb.
»Xydia?« Taramis kümmerte sich nicht länger um die Gefahr, er musste den Namen aussprechen. Innerlich wappnete er sich gegen das Schlimmste und umrundete mit bleischweren Beinen die Trennwand. Was er dahinter fand, riss ihm das wild pochende Herz entzwei.
Ja, es war Xydias Gewand. Wie
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