Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
Melaton lag auch die Frau auf dem Bauch in einer Blutlache. Er ließ kraftlos die Waffen fallen, sank neben ihr auf den Boden und drehte sie um. Der Mörder hatte sie wie den Diener des Hohepriesters mit einem einzigen Stich getötet. Ihr Antlitz war von glattem, schwarzem Haar verhüllt. Taramis strich es ihr mit zitternder Hand aus dem Gesicht.
»Xydia!«
Sein verzweifelter Schrei dröhnte durch den Tempel. Ganz Jâr’en schien darunter zu erbeben. Für einen harten, unerschrockenen Krieger hatte er sich immer gehalten. Aber das war er nicht. Er wollte gar nicht stark sein, wollte nur noch fallen, in diesen bodenlosen Abgrund, den er unter sich fühlte.
Außer sich vor Leid drückte er Xydia an sich und ließ den Tränen freien Lauf. »Bitte komm zurück«, flehte er. »Ich will nicht ohne dich leben. Du darfst mich nicht verlassen. Xydia! Bitte lass mich nicht allein!«
Immer wieder rief er ihren Namen. Doch sie antwortete nicht. Gulloths Fluch hatte sich erfüllt. Ihm war das Liebste genommen, das er besaß.
Plötzlich spürte er eine Berührung an der Schulter. Er zuckte nicht zusammen, sondern schloss nur die Augen. Hoffentlich ist es ein Fischkopf, dachte er. So kann ich wenigstens neben Xydia sterben.
»Taramis!« Die leise Stimme klang freundlich. Sie war ihm vertraut, hatte sie doch oft an Vaters statt zu ihm gesprochen. Ein drängender Unterton schwang darin mit und … Kummer?
Wie ein trotziger kleiner Junge kniff er die Augen noch fester zu und verbarg sein Gesicht an Xydias Wange. »Lasst mich in Ruhe, Marnas.«
Er hörte ein Seufzen. »Wie könnte ich das, wenn du durch dein Klagegeschrei die anderen in Gefahr bringst? Die Dagonisier können jeden Moment zurückkommen.«
»Welche anderen?«
»Die Priester, Gärtner und ihre Familien, die ich in den Gewölben unter dem Allerheiligsten versteckt habe. Du steigst am besten gleich zu ihnen hinab. Folge dem Schechináh-Licht. Ich bin gerade auf dem Weg zurück zu meinen Männern gewesen, als ich deine Stimme hörte.«
Taramis kannte den Obersten der Tempelgarde lange genug, um dessen Rat als Befehl aufzufassen. Zorn mischte sich in seine Trauer. Er wollte sich nicht in den geheimen Kammern verkriechen, sondern Xydias Mörder finden. Sie verdienten den Tod. Behutsam ließ er das Mädchen auf den Boden herab, wandte sich endlich seinem Lehrmeister zu – und erschrak.
Marnas bot einen erbärmlichen Anblick. Asche hatte sein schwarzes, nur von wenigen silbernen Fäden durchzogenes Haar grau gefärbt. Das hagere, scheinbar um Jahre gealterte Antlitz war schmutzig, blutverschmiert und kaum wiederzuerkennen. Mit seiner aristokratischen Nase, den ausgeprägten Wangenknochen und einer Augenpartie, die an einen Falken erinnerte, hatte es vielen als Inbegriff natürlicher Autorität gegolten. Jetzt wirkte es nur noch hart. Ein Zug von Bitterkeit hatte sich in die steinerne Maske eingegraben.
Und das Elend setzte sich bis zu den Füßen hin fort. Die Rüstung des Ersten Tempelwächters war an mehreren Stellen beschädigt und völlig verdreckt. Das daran klebende Blut stammte zumindest teilweise von ihm selbst. Von zahlreichen Kratzern abgesehen, war Marnas an der Stirn, dem linken Arm und beiden Beinen verletzt, glücklicherweise nur leicht. Ihn so zu sehen, schmerzte Taramis. Ungeachtet seiner nun schon achtundvierzig Jahre war der Hüter von Jâr’en für ihn immer eine Ehrfurcht gebietende Erscheinung gewesen, ein Krieger, wie er im Buche stand: fast sechs Fuß groß, breitschultrig, sehnig und in seinen Bewegungen von sparsamer Effizienz. Nun glich er einem geprügelten Hund. Nein, einem ehemals tapferen Mann, der an etwas zerbrochen war.
Taramis empfand ähnlich. Er vermutete, dass Marnas am Gefühl des Versagens litt, war er als Hüter von Jâr’en doch für die Sicherheit der Insel verantwortlich. Ihn dagegen, den um die Liebe seines Lebens Betrogenen, plagte wie er meinte ein viel größerer Schmerz. Nur der Respekt vor seinem Lehrer hielt ihn davon ab, sofort loszustürmen und unter den Dagonisiern blutige Ernte zu halten. Er schüttelte den Kopf und antwortete so ruhig wie möglich: »Vergebt mir, Meister, aber Ihr verlangt Unmögliches von mir. Ich werde nicht eher ruhen, bis ich Xydia gerächt habe.« Um seine Entschlossenheit zu demonstrieren, bückte er sich nach Stab und Schild.
»Mein Sohn«, sagte Marnas ungewöhnlich mild. Es klang tatsächlich so, als spräche er als Vater zu ihm. »Ich kann deinen Zorn durchaus nachempfinden. Mir
Weitere Kostenlose Bücher