Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
vorstellen.«
»Übertreib es nicht, junger Freund. Ich möchte deine Erwartungen nur nicht zu sehr beflügeln. Es mag sein, dass ich zwölf Männer durch die Mauer bekäme, vielleicht auch fünfzehn, aber danach bräuchte ich eine Verschnaufpause.«
Taramis blickte gedankenvoll ins Dunkel jenseits des Scheins der Grubenlampe. »Warum habt ihr nie versucht zu fliehen? Mit deiner Begabung …«
»Mit meiner Begabung«, unterbrach Veridas ihn, »hätte ich bestenfalls ein Dutzend Männer in den Tod geschickt. Die Insel der Verdammten ist ein lebensfeindlicher Ort. Staub und Hitze gibt es im Überfluss, an Wasser und Essbarem dagegen herrscht Mangel. Ohne Tiere, die uns von hier wegbringen könnten, käme jeder Fluchtversuch einem Selbstmord gleich. Gegen die Dagonisier und ihre Wühler sind wir machtlos.«
»Vielleicht irrst du dich«, murmelte Taramis. »Gib mir etwas Zeit zum Nachdenken. Meine Träume und dein Sternensplitter – das waren womöglich wirklich Zeichen. Lass mich herausfinden, wie man sie richtig liest.«
Der Plan
D as ist Wahnsinn«, dröhnte Gabbar, und er schien es wörtlich zu meinen.
»Klingt wie eine ziemlich bizarre Methode, Selbstmord zu begehen«, pflichtete ihm Masor unaufgeregt bei. Der junge Krieger mit den olivfarbenen Mandelaugen und auffallend langen blauschwarzen Haaren war ebenfalls ein Nebelwächter.
Taramis hatte mit solchen Reaktionen gerechnet. Wäre er denn begeistert gewesen, wenn ihm jemand einen so gewagten Fluchtplan unterbreitet hätte? Ganz bestimmt nicht. Eigentlich handelte es sich auch nicht um einen richtigen Plan, sondern eher um eine Skizze. Er hatte sie aus den im Tagesverlauf zusammengetragenen Gedankenschnipseln erstellt und sie vorerst nur fünf Gefährten anvertraut. Zwei von ihnen gehörten der Tempelgarde an und verdankten ihre Berufung in den konspirativen Kreis der Empfehlung des Hüters von Jâr’en.
Bei Masor hatte Taramis damit auch keine Probleme. Beide bekleideten den Rang eines Hauptmanns, waren gleichaltrig und hatten einander mehr als einmal bewiesen, dass man sich aufeinander verlassen konnte. Der sechseinhalb Fuß große Krieger von der Atollinsel Zeremin gehörte dem verarmten Zweig eines alten Geschlechts von Stammesfürsten an. Die edle Herkunft fand ihren Widerhall in einer altersuntypischen Gelassenheit und würdevollen Ausstrahlung. Masor war von athletischer Statur, ohne ein Jota Fett zu viel auf den Rippen. Das kantige Gesicht zierte eine Adlernase, die seiner aristokratischen Erscheinung etwas Verwegenes verlieh. Bei den weiblichen Bewohnern der Heiligen Insel genoss er den Ruf eines Herzensbrechers. Allein durch Willenskraft vermochte er aus Nebel Regen zu machen und umgekehrt. Seine bevorzugten Waffen waren der Langbogen und der Beidhänder, in deren meisterhaftem Gebrauch sich nur Taramis mit ihm messen konnte.
Der war einigermaßen überrascht, auch Pyron in der Sechserrunde zu sehen, da dessen vorlautes Mundwerk tags zuvor ja einem Kameraden das Leben gekostet hatte. Der Hitzkopf war nicht einmal Manns genug gewesen, für seinen folgenschweren Ausrutscher selbst einzustehen. Marnas vertraute ihm trotzdem. Im Kampf habe Pyron sich schon mehrmals bewährt, erklärte der Hüter. Er könne es mit zwei Dutzend Gegnern gleichzeitig aufnehmen. Und er verfüge über viele gute Eigenschaften. Dazu gehöre auch das Eingeständnis der eigenen Schwächen. Er habe seinen Mangel an Selbstbeherrschung bitter bereut und um eine Gelegenheit zur Wiedergutmachung gefleht. »Unter großem Druck macht man manchmal große Fehler, Taramis. Wichtig ist, was wir daraus lernen. Kannst du Pyron guten Gewissens eine zweite Chance verwehren?«
Die Frage hatte Taramis beschämt. Anstatt beim Überfall auf Jâr’en in die Schlacht einzugreifen, war er zum Haus des Hohepriesters weitergeflogen. Er hatte wegen persönlicher Gefühle seine Pflicht verletzt. Trotzdem war deswegen kein anklagendes Wort über Marnas’ Lippen gekommen. Der Hüter verstand, dass die Liebe zu Xydia seinem besten Krieger keine andere Möglichkeit gelassen hatte. Die Vorwürfe machte Taramis sich selbst. Wie viele Kameraden könnten noch leben, wenn er sich früher zum Kampf entschieden hätte? »Eine zweite Chance verdient wohl jeder«, hatte er deshalb geantwortet und seinen Einspruch gegen die Berufung von Pyron zurückgezogen.
Beim Nachtmahl war das Sprechverbot aufgehoben, was die Abstimmung zwischen Taramis, Marnas, Gabbar, Veridas, Masor und Pyron ungemein erleichterte.
Weitere Kostenlose Bücher