Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
Richtig?«
Widerstrebend gab Taramis ihm recht. »Aber in dem Traum war ich ganz allein. Heißt das, mir wird als Einzigem die Flucht gelingen?«
»Nicht unbedingt.« Veridas strich sich versonnen durch den schütteren Bart und murmelte: »Du könntest dazu auserwählt sein, uns zu befreien.«
Taramis musste lachen, wenn auch ohne jede Heiterkeit. »Was denkst du dir? Du kennst die Steinwälle und Wachttürme und all die anderen Sicherheitsmaßnahmen auf Zin doch besser als ich. Ich vermag weder zu fliegen noch durch Wände zu gehen.«
»Und ob du das kannst.«
»Wie bitte?«
Der Seher nahm sein Halsband ab und legte es samt dem kantig spitzen Anhänger neben Taramis in den Sand. Hiernach suchte er sich im Schacht ein Stück Mosphat von der Größe einer Walnuss und kehrte damit zum Tempelwächter zurück. »Strecke deine Linke aus. Halte sie flach über den Sternensplitter.« Er deutete auf den schwarzen Stein am Lederriemen.
Taramis gehorchte. »Das Ding ist ein Meteorit?«
Veridas legte ihm den porösen blauen Stein in die Handfläche und murmelte: »Ich hatte vor vielen Jahren eine Sternschnuppe beobachtet. Sie ist mir direkt vor die Füße gefallen und verbrannte mir die Haut, als ich sie aufzuheben versuchte. Das war kein Zufall, wie ich zunächst dachte.«
»Du meinst, es war … eine Fügung?«
Der Seher nickte. »Ich war erst neun und meinte, Gao habe mich mit keiner einzigen wunderbaren Gabe gesegnet. Durch den Splitter wurde ich eines Besseren belehrt. Gib acht.«
Taramis betrachtete argwöhnisch das blaue Bröckchen in seiner Linken. Würde es gleich schweben?
Seine Gedanken stockten jäh, weil genau das Gegenteil geschah: Es fiel herab. Klickend landete es auf der erstarrten Sternschnuppe, sprang zur Seite und entschwand seinem Blick. Der verharrte nämlich weiter auf seiner Hand, die das Mosphat nicht hatte halten können.
Denn darin befand sich jetzt ein rundes Loch!
Es hatte sich überraschend unter dem blauen Steinchen geöffnet. Fast sein ganzer Handteller war verschwunden. Die Ränder der klaffenden Wunde, in denen eigentlich Knochen und Muskeln zu sehen sein müssten, waren sonderbar verschwommen. Taramis hatte das Gefühl, in wabernden Nebel zu blicken. Merkwürdigerweise spürte er keinen Schmerz.
»Veridas, was tust du …?« Er verstummte überrascht, weil sich das Loch unvermittelt wieder schloss.
Der Seher schmunzelte. »Was hast du gesagt? Du könntest nicht durch Wände gehen? Wie du siehst, ist das nicht wahr.«
Taramis drehte und wendete seine Hand, öffnete und schloss sie und schüttelte den Kopf. »Sie ist wieder völlig geheilt.«
»Ihr hat nie etwas gefehlt.«
»Ha! Und wie konnte dann der Stein hindurchfallen?«
»Keine Ahnung. Aber kannst du mir erklären, wie deine Augen und Ohren funktionieren? Vermutlich auch nicht. Trotzdem leidest du weder an Blindheit noch an Taubheit.«
»Ich hatte tatsächlich keinen Moment das Gefühl … unvollständig zu sein.«
»Meine Vermutung ist, dass es neben der Höhe, Breite und Tiefe weitere Ausdehnungen gibt, die unserer Wahrnehmung normalerweise verborgen bleiben. Eine davon könnte die Zeit sein, die etwas aus dem Hier und Jetzt entrücken kann.«
»Willst du damit andeuten, meine Hand sei in der Zukunft oder der Vergangenheit gewesen?«
»Vielleicht. Nenne es, wie du willst. Meinetwegen war sie auch im Drüben, im Jenseits oder im Nebenan. Ich stelle es mir wie eine Tür vor, die ich öffne. Selbst wenn sie dadurch vor deinen Augen verschwindet, hängt sie immer noch in den Angeln. Deswegen hast du keinen Schmerz gefühlt. Tatsache ist, ich weiß nicht genau, was da passiert.«
»Bist du imstande, eine Bresche in den Lagerwall zu schlagen, sodass wir fliehen könnten?«
Veridas hob sein Halsband auf und streifte es sich wieder über den Kopf. »Bresche ist vielleicht nicht das richtige Wort. Wenn jemand auf der anderen Seite der Mauer meinen Sternensplitter deponiert, bekäme ich ein Loch zum Durchschlüpfen hin. Allerdings nicht sehr lange. Je größer es ist, desto mehr Kraft muss ich aufwenden, um es offen zu halten.«
»Für wie viele Männer würde das reichen?«
Der Seher hob die Schultern. »Schwer zu sagen. Mit dem Versetzen verhält es sich genauso wie mit einer anderen körperlichen Anstrengung. Angenommen, ich müsste mich mehrmals an einer Querstange hochziehen – bei meiner Konstitution bekomme ich drei oder vier Klimmzüge hin, dann hänge ich herab wie ein nasser Sack.«
»Das kann ich mir gut
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