Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
Gabbars Angebot anzunehmen. Ich werde für uns zwei arbeiten.«
Taramis lächelte schwach. »Danke, Marnas. Irgendwann zahle ich dir alles zurück.«
»Das musst du nicht. Meine Zeit ist abgelaufen, als die Heilige Insel überrannt wurde. Ich bin die Vergangenheit, aber du bist Beriths Zukunft, mein Junge.«
Der Verwesungsgeruch war betäubend. Taramis hob benommen den Kopf und blickte in die leeren Augenhöhlen eines menschlichen Schädels. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Er drehte sich rasch vom Bauch auf den Rücken; unter ihm klapperten Knochen. Die Grube! Der Name war passend für ein Massengrab und zugleich eine zynische Untertreibung.
Er kniff die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, war alles unverändert. Skelette, so weit der Blick reichte. An einigen hingen noch Haut, Fleisch und Sehnen. Kleine Käfer tummelten sich auf ihnen und nagten mit ihren winzigen Scheren die Gebeine blank. Dank ihrem emsigen Treiben sahen die meisten Knochenmänner wie sauber geleckt aus.
Taramis schüttelte den Kopf. Wie war er hierhergekommen? Sein Gedächtnis gaukelte ihm verwirrende Erinnerungen vor. Er meinte, schon einmal an diesem unheimlichen Ort gewesen zu sein, wusste aber nicht, wann oder warum. Gabbar hatte gesagt, die Grube sei ein Ort der Bestrafung. Wer hineinfalle und nicht sofort sterbe, der stille den Hunger der Nager. Er hatte gedacht, der Hüne spräche von Aas fressenden Ratten …
Seine Gedanken stockten, als ihm ein Käfer über die Hand krabbelte. Taramis geriet in Panik. Schreiend schüttelte er ihn ab und versuchte sich aufzurichten. Es gelang ihm nicht. Er klemmte in den Knochen fest. Ein schmerzhaftes Zwicken in der Wange ließ ihn abermals aufbrüllen. Ihm fiel beim besten Willen nicht ein, welchen Vergehens er sich schuldig gemacht hatte, um einen so grausamen Tod …
»Wach auf, Nebelwächter, du träumst nur!«
Schweißgebadet fuhr Taramis aus der Sandmulde hoch und blinzelte verwirrt den Mann an, der sich zu ihm hinabgebeugt und ihn an der Schulter geschüttelt hatte. »Veridas!«
Der Seher hielt ihm lächelnd einen Blechnapf mit klarem Wasser hin. »Immer noch derselbe. Hier, trink.«
Taramis nahm das Gefäß und leerte es mit großen Zügen. »Danke. Es schmeckt köstlich.«
»Bedanke dich bei dem Mosphat. Es reinigt das durch den Fels sickernde Wasser. Die eisenhaltige Brühe aus den Brunnen im Lager kannst du dagegen vergessen. Darf man fragen, was du geträumt hast? Sah aus, als kämpftest du um dein Leben.«
Taramis erzählte von seinen Traumerlebnissen und kam zu dem Schluss: »Gabbars Erwähnung der Grube muss mich tiefer beeindruckt haben, als mir bewusst geworden ist. Schon in der letzten Nacht habe ich sie im Schlaf …« Er schluckte. »Die Dagonisier haben mich wie einen Toten hineingeworfen.«
»Bist du ein Geistseher?«
»Was?«
»Dir dürfte bekannt sein, dass manche von uns Dinge erblicken können, die weit weg oder von dicken Mauern umgeben sind.«
»So was ist mir nie passiert.«
»Dann ist es ein Zeichen.«
»Wie bitte?«
Veridas kniete sich neben Taramis in den Sand, fasste ihn bei den Schultern und blickte ihm sichtlich erregt in die Augen. »Haben die Fischköpfe euch gestern die Grube gezeigt?«
»Nein. Ich weiß nicht einmal, wo sie sich befindet.«
»Dachte ich mir. Nun, wir haben das Lager heute früh auf der linken Seite umrundet. Das Loch liegt jenseits der Wälle, also genau gegenüber, in einer ausgetrockneten Klamm. Deine Beschreibung stimmt bis ins kleinste Detail. Sogar die Käfer gibt es – wir nennen sie Leichenfledderer.«
Taramis blinzelte den Nebelwächter verwirrt an. »Das ist doch unmöglich. Ich bin kein Seher …«
»Bei Gao ist nichts unmöglich«, unterbrach Veridas ihn erneut. »Er hat sich seinen Dienern schon oft in Träumen und Visionen mitgeteilt, auch solchen, die bis dahin nie als Propheten aufgefallen sind. Vielleicht ist die Grube ja wirklich ein Zeichen, das dir den Weg in die Freiheit weist.«
»Verstehe«, schnaubte Taramis. »Um von hier wegzukommen, muss ich erst sterben. So hatte ich mir die Flucht eigentlich nicht …«
»Du musst lernen, die Zeichen richtig zu lesen, junger Freund«, tadelte ihn Veridas. »Das ist es, was wir unseren Schülerinnen und Schülern auf Luxania beibringen. Das Knochenloch ist kein Symbol, sondern Tatsache. Wenn du es in allen Einzelheiten erblickt hast, obwohl du offensichtlich keine entsprechende Geistesgabe besitzt, dann muss höhere Fügung im Spiel sein.
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