Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung
befanden, konnte sie nicht erkennen.
Am Ende des Korridors öffnete der vorausgehende Drachenmann eine weitere Tür. Die Wachen stießen Shúria in den Halbschatten dahinter. Es folgte ein Krachen und das Klappern eines schweren Schlüssels im Schloss. Schritte entfernten sich. Dann herrschte Ruhe.
Verzagt sah sie sich um. Durch ein niedriges, vergittertes Fenster unter der Decke fiel ein gleißender Lichtstrahl, in dem Staubkörnchen tanzten. Abgesehen davon gab es weder eine Kerze noch eine andere Beleuchtung in der muffigen Zelle.
Wenigstens ist es kein enges Loch, dachte Shúria. Es war eher eine unergründliche Höhle, so groß, dass ihr Blick nicht einmal ihre dunklen Winkel auszuloten vermochte. Vermutlich sperrten die Herren der Festung hier schon mal eine ganze Ladung Gefangener gemeinsam ein. Hatte Timur ihr wirklich einen Gefallen getan, als er sich für ihre sichere Unterbringung einsetzte?
»Bist du auch weggelaufen?«, fragte plötzlich jemand aus den Schatten.
Shúria erschrak. Unwillkürlich flüchtete sie ins Licht. Eigentlich hatte die Stimme nicht feindselig geklungen, eher wie das sanfte Plätschern einer Quelle auf moosbedeckten Steinen.
»Du brauchst dich vor mir nicht zu fürchten«, sagte sie leise.
Shúria wagte sich aus dem Sonnenlicht heraus, um ihr Gegenüber besser sehen zu können. Sie zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und erschauderte. Aus dem Dunkel schälte sich eine schemenhafte Gestalt. Es war ein hochgewachsenes Wesen mit großem Kopf und zerbrechlich wirkendem Körperbau.
Und es hatte Flügel!
»Wer bist du?«, fragte Shúria.
»Mein Name ist Kaya.«
»Bist du eine Zioranerin?«
»Das weiß ich nicht.«
»Was soll das heißen?«
»Ich weiß nicht, ob ich nach deinem Verständnis mehr Frau oder Mann bin.« Das Wesen trat ins Zwielicht, sodass Shúria es besser erkennen konnte. Es war gänzlich unbekleidet und seine unbehaarte Haut so fahl wie der Mond in einer klaren Winternacht. Tatsächlich vermochte Shúrias verstohlen forschender Blick an den üblichen Körperstellen nichts zu entdecken, das auf eines der beiden Geschlechter schließen ließ.
»Falls du dich wohler dabei fühlst, bin ich für dich vorerst ein Zioranermädchen«, sagte Kaya.
Shúria lächelte verlegen. »Wenn es dir nichts ausmacht, nehme ich dein Angebot gerne an. Unsere Sprache hat leider kaum freundliche Worte, um so jemanden wie dich mit Respekt zu behandeln, und es liegt mir viel daran, das zu tun.« Sie hatte bisher nur ein einziges Mal einen Weißblüter gesehen. Genau genommen war es Gaal gewesen, der lediglich die Gestalt eines Zioraners angenommen hatte. Shúria überwand ihr Unbehagen und ging auf den Flügelmenschen zu. Scheu streckte sie ihm die Hände entgegen. An diesem Ort waren Befangenheiten fehl am Platz. »Ich bin Zeridianerin.«
Als Kaya die Vertrauensgeste erwiderte, griffen ihre feingliedrigen Finger so zaghaft zu, dass es sich für Shúria mehr wie ein behutsames Tasten anfühlte. »Komm ins Licht, damit ich dich genauer betrachten kann.«
Sie traten unter das vergitterte Fenster.
Während Shúria sich von dem Flügelmenschen mustern ließ, saugte sie selbst jede Einzelheit dieses ihr so fremden Menschenschlags in sich auf. Nach ihrem Schönheitsverständnis waren Kayas insektenhafte Körperproportionen, die großen roten Augen, die kalkweißen Adern unter der bläulichen Haut und ihre Fledermausflügel eher abstoßend. Das Gleiche dachten andere allerdings über die Kiemenspalten der Zeridianer. Deshalb unterdrückte sie das Schaudern und lächelte.
»Ich kann mir vorstellen, dass du eine Augenweide bist, da, wo du herkommst«, sagte Kaya nach einer Weile.
Unwillkürlich musste Shúria schmunzeln. Du findest mich also hässlich. Das beruhigt mich. »Mir ist nur wichtig, dass ich meinem Mann gefalle.«
»Hat er einen Namen?«
»Ja.«
»Und du?«
»Ich ebenfalls. In meiner Heimat bekommt jedes Kind einen.«
»Eigentlich hatte ich wissen wollen …«
»… wie wir heißen. Das ist mir schon klar.« Shúria schloss die Augen, schüttelte den Kopf und sah Kaya wieder an. »Verzeih bitte, wenn ich meinen Namen vorerst für mich behalte. Manchmal haben die Wände Ohren.« Sie erwähnte nicht, dass sie auch gegenüber dem geflügelten Wesen nicht ganz frei von Argwohn war. Vielleicht war es ein dagonisischer Seelenfresser, der sie ausspionieren wollte.
»Aus deiner Antwort schließe ich, dass du keine gewöhnliche Gefangene bist.«
»Welchem Zweck dienen
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