Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung
besaß auch der Donnerkeil eine natürliche Anziehungskraft. So konnte er eigene Jungtiere ebenso wie Reiter zuverlässig am Körper festhalten.
Jagur lenkte das schwierige Manöver höchstpersönlich, weil er die engste Bindung zu Aviathan hatte. Er saß weit vorne in der Luftschleuse, wo die Kristallkuppel selbst für ihn zum Stehen zu flach war, sein Blick schien auf ein fernes Ziel gerichtet. In Wirklichkeit dirigierte er das Tier im Geist wie an Zügeln durch die Engstelle, hinter der das Versteck lag.
»Pass auf!«, flüsterte Taramis. Ein Felsvorsprung kam der Kiemenkapsel gefährlich nahe. Er hatte beschlossen, einen anderen Schlupfwinkel zu wählen als im letzten Jahr, als der Verräter Bochim sie in Gestalt Bohans begleitet hatte.
»Ich sehe es«, knurrte Jagur.
Die kristallene Schutzhaube glitt nur eine Handbreit weit an dem Vorsprung vorbei.
»Kompliment«, lobte Taramis das Manöver. »Besser hätte es Ischáh auch nicht hinbekommen.«
»Wir hatten denselben Lehrer«, brummte Jagur.
»Wie du dich vorhin an den Mamoghreitern vorbeigestohlen hast, war übrigens mindestens genauso beeindruckend.«
»Die Patrouillen scheinen keine Erfahrung mit Piraten zu haben.«
»Vielleicht kannst du ihnen den ein oder anderen Rat geben.«
Endlich kam Aviathan auf einem glatten Felsbuckel zwischen schroffen Klippen zur Ruhe. Tebok und Kobet öffneten die Kiemenkapsel. Frische Atemluft strömte herein.
Als Erstes kümmerten Siath und Taramis sich um ihre tierischen Gefährten. Sie schickte ihren Goldmilan Tosu auf einen Erkundungsflug, und er führte seinen geflügelten Rappen Allon ins Freie. Am liebsten wäre Taramis auf dem Rücken des Ippos gleich zum Tempelbezirk geflogen. Damit hätte er dann mit Sicherheit die Aufmerksamkeit erregt, die er gerade vermeiden wollte. Also entschied er sich schweren Herzens, das Zweihorn bei Tebok und Kobet zu lassen und sich zu Fuß auf die Oberfläche der Heiligen Insel zu begeben.
Anders als bei seinem letzten Besuch mit Ischáhs Donnerkeil Narimoth hatte er diesmal einen Liegeplatz dicht unterhalb der Bruchkante ausgesucht. Dadurch ersparten sie sich die Durchquerung des Schwerkraftpols, an dem sich alle Anziehungskräfte Jâr’ens gegenseitig aufhoben.
Um so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen, nahm er nur Siath mit. Ein Pilger, der vom Hohepriester den Segen Gaos für den Mutterschoß seiner Frau erbat, war auf Jâr’en ein alltäglicher Anblick. Ausschlaggebend für seine Wahl war hauptsächlich ihr Gespür für die innere Harmonie von Lebewesen gewesen. Selbst wenn es nicht Gaal war, der die Gestalt eines anderen angenommen hatte, würde sie den Seelenfresser entlarven.
»Ich hatte das Gefühl, dein kleiner Freund fühlte sich ausgebootet, als du dich für mich entschieden hast«, sagte sie kurz nach dem Aufbruch. Die beiden durchquerten gerade ein natürliches Höhlensystem. Taramis ging mit einer Fackel voran.
Er lachte. »Jagur hält sich für meinen Schutzengel. Als wir vor den Kesaloniern geflohen sind, ist er das ja tatsächlich gewesen. Wie ich ihn kenne, nutzt er die Zwangspause auf seine Art. In den Höhlen hier unten ist es fast wie bei ihm zu Hause. Er meinte, bis zu unserer Rückkehr werde er die Unterwelt von Jâr’en erkunden, kartieren und einige Pläne für sinnvolle Erweiterungen entwerfen.«
Nach der Durchquerung einer lang gezogenen Halle mit Tropfsteinen gelangten sie in einen Tunnel, der unweit des Tempelbezirks im Garten der Seelen endete. Der Ausgang lag unter dem verzweigten Wurzelwerk eines Seelenbaumes verborgen. Vogelstimmen erfüllten den Wald, und ein warmer Wind strich über die rauschenden Wipfel. Die Luft roch nach Blüten, Rinde und Harz. Taramis überkam ein Gefühl von Geborgenheit. Dieser Ort war einzigartig auf der Welt. So unterschiedlich wie die Menschen von Berith waren auch die Bäume von Gan Nephaschôth, und trotzdem standen sie alle in friedlicher Eintracht beieinander. Hier, wo jedes vernunftbegabte Lebewesen in Gestalt seines Seelenbaumes verwurzelt war, fühlte er sich zu Hause.
Wegen der jüngsten Vorfälle im Heiligen Hain rechnete Taramis mit einer strengen Bewachung der gesamten Insel. Um nicht übereifrigen Tempelwächtern in die Pfeile zu laufen, erkundete er die Umgebung zunächst gründlich, ehe er sich mit Siath aus dem Versteck wagte. Ihre Augen waren himmelwärts gerichtet.
»Du suchst Tosu?«, fragte er.
Sie nickte. »Ich kann spüren, dass er in der Nähe ist.«
»Belass es vorläufig dabei.
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