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Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung

Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung

Titel: Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Man muss ja nicht gleich auf hundert Schritte erkennen, dass du eine Ganesin bist. Ich verkleide uns jetzt mit einer kleinen Gaukelei als Pilger.« Im selben Augenblick hatte er schon die Illusion zerschlissener Gewänder aus grober Wolle erschaffen. Mittlerweile folgten die beiden einem Pfad, der sie zu dem See vor den Mauern des Tempelbezirks führte.
    Siath sah missbilligend an sich herab. »Musst du mir unbedingt so einen Sack zumuten? Ich bin eine Frau, Taramis.«
    »Sogar eine überaus liebreizende, die das Verlangen von mehreren Königen geweckt hat. Wir müssen alles vermeiden, was Aufmerksamkeit erregt.«
    Sie seufzte. »Na meinetwegen. Kannst du auch etwas mit meinem Gesicht machen? Auf Jâr’en dürften noch etliche leben, die mich von früher kennen«
    »Schon erledigt.«
    »Habe ich eine Knollennase?«
    »Nein, nur dunkle Haare und ein paar Kiemen. Man wird dich für eine Zeridianerin halten. Für eine leidlich hübsche Zeridianerin, falls das ein Trost für dich ist.«
    »Leidlich?«
    »Stehen bleiben! Wer seid ihr?«, erklang unvermittelt eine Stimme von oben.
    Instinktiv packte Taramis mit beiden Händen den Feuerstab, die einzige Waffe, die er mitgenommen hatte. Als er ins Geäst des Laubbaumes hinaufspähte, aus dem der Ruf gekommen war, entdeckte er ein Gesicht, das ihm entfernt bekannt vorkam. Daraus blickten zwei Augen so schwarz wie Oliven über einen Pfeilschaft hinweg zu ihnen herab. Als ihm die blauschwarzen Haarzöpfe des Spähers auffielen, erwachten alte Erinnerungen.
    »Usa?«
    Die Miene des Wächters blieb argwöhnisch, sein Langbogen gespannt. »Woher kennt Ihr meinen Namen, Pilger?«
    »Ich war mit deinem Vater, dem Priester Solomos, und mit deiner Mutter Nagrith befreundet. Als ich zum letzten Mal in eurem Haus gespeist habe, sind du und deine Geschwister noch Kinder gewesen. Wie alt bist du jetzt? Sechsundzwanzig? Komm herunter, damit ich dich begrüßen kann.«
    »Es ist mir nicht erlaubt, meinen Posten zu verlassen«, antwortete Usa.
    »Ich weiß. Nachdem die Dagonisier über die Heilige Insel hergefallen sind, hat Taramis in seiner Truppe streng auf die Einhaltung dieser Vorschrift geachtet. Ich nehme an, der neue Hüter von Jâr’en hat den Befehl sogar verschärft.«
    »Darüber darf ich nicht mit Euch sprechen, Herr.«
    »Habt ihr jungen Tempelwächter einen Spitznamen für ihn? Wir haben ihn immer Kater Zur genannt.«
    Der Miene des Spähers war die Überraschung anzusehen. Nur Eingeweihte wussten über diese Dinge Bescheid. Sein gesundes Misstrauen gefiel Taramis, so lange in Usas Schusslinie zu stehen, behagte ihm weniger. Es wurde Zeit, ihn vollends zu verblüffen.
    »Bist du noch ein so hervorragender Bogenschütze wie damals? Mit fünf konntest du bereits einen Apfel aus einhundert Schritt Entfernung treffen. Chohén Eli klagte mir des Öfteren sein Leid, weil du ihm sämtliche Tauben vom Dach geschossen hast.«
    »Woher wisst Ihr das alles?«, staunte der Späher.
    »Ich dachte, das hätte ich gesagt. Sind deine Brüder und Vettern auch in der Tempelgarde?«
    »Ja … Und Ihr kanntet wirklich unseren alten Hohepriester?«
    »Er war wie ein Vater für mich. Und Kater Zur … Entschuldige, dein Kommandant, ist mit mir durch dick und dünn gegangen.«
    Usa schwang sich aus den Ästen herab. Er war kleiner als Taramis und sehnig wie ein Komanaischer Windhund. Mit gezücktem Schwert landete er vor den beiden Besuchern.
    »Du hast von uns nichts zu befürchten«, erklärte Taramis.
    »Im Heiligen Hain treibt jemand sein Unwesen, der vor keiner Täuschung zurückschrecken würde, um sich einen Vorteil zu verschaffen.«
    Taramis deutete auf seine Begleiterin. »Wie du siehst, bin ich nicht allein. Bedroht die Tempelgarde neuerdings jeden, der nach Beth Gao pilgert, weil der Schoß seiner Frau verschlossen ist?«
    »Es ist weder erlaubt noch üblich, dass Pilger den Garten der Seelen besuchen«, versetzte Usa.
    Ehe der junge Mann wusste, wie ihm geschah, trat Siath lächelnd auf ihn zu und streckte ihm über die Schwertklinge hinweg die Hand entgegen. »Friede, mein Herr.«
    Ihre Spontaneität war nur vorgetäuscht, denn das Misstrauen beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Der vermeintliche Tempelwächter konnte in Wahrheit ein Seelenfresser sein. Sollte er Usa getötet haben, besäße er nicht nur dessen Aussehen und Fähigkeiten, sondern auch sämtliche Erinnerungen des Ermordeten. Eine Berührung würde der Ganesin genügen, um jede Störung der inneren Harmonie zu

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