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Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung

Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung

Titel: Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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drinnen hörte sie weder ein Schnarchen noch das allzu bekannte unwillige Brummen, nur einen dünnen, hohen Laut, der ihr Rätsel aufgab. Hatte sich irgendein Vogel durchs Fenster in die Kammer verirrt? Sie stellte das Tablett auf den Boden und öffnete vorsichtig die Tür.
    Ihr Blick fiel direkt auf das hölzerne Bett. Anders als erwartet sah sie dort nicht den Daunenberg, der sich über dem enormen Leib ihres Gatten auftürmte, sondern etwas, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Entsetzt stieß sie die Tür vollends auf und taumelte in den Raum. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie das hässliche Geschöpf an, das anstelle ihres Mannes auf dem schneeweißen Laken lag.
    Es war ein kleines, blass gestreiftes Kind mit Hautflügeln und dem Kopf eines Feuerfischs.
    Fidenia stockte der Atem. An der Größe von Menschenkindern gemessen mochte die Kreatur schon fünf Jahre oder älter sein. Doch sie gab quäkende Laute von sich und zappelte mit seinen sechs Gliedmaßen wie ein Neugeborenes.
    Wo war nur der alte Trunkenbold? Hatte er dieses widerliche Ding mitgebracht?
    Auf einmal verdunkelte sich der Himmel. Vor dem Fenster wirbelte eine rußschwarze Wolke vorbei. Fidenias Blick wurde von etwas Fahlem unter dem Fenstersims angezogen. Wohl die Zudecke, die das fischköpfige Wesen weggestoßen hat, dachte sie. Es war zu finster, um in der Nische zwischen Wand und Bett Genaueres zu erkennen. Irgendetwas Dunkles lag auf dem Daunenbett, flach und faltig. Vermutlich hatte der Trunkenbold wieder mal seine Kleider achtlos fallen gelassen.
    Plötzlich schien die Welt hinter den schlierigen Fenstergläsern in Flammen aufzugehen. Fidenias Kopf fuhr herum. Fassungslos starrte sie auf das glutrote Gewirbel, das den sprühenden Funken über einem Kochfeuer glich, nur dichter und riesiger, als sie es je in einem Kamin gesehen hatte. Als ihr Blick herabsank, sah sie in dem unheimlichen Licht ihren Mann oder vielmehr das, was die Ausgeburt im Bett von ihm übrig gelassen hatte. Ihr Herz setzte einen langen Schlag aus.
    Auf dem Daunenbett am Boden lagen keine Kleider. Das zusammengefallene Etwas war eine dünne, gelblich durchscheinende Schale. Wie ein monströser Insektenpanzer nach der letzten Häutung. Es war die leere Hülle des Ratsherrn Kolb, ihres Mannes.
    Im Laufschritt kehrte Pyron von seinem Rundgang ins Haus der Räte von Ramoth zurück. Er rannte in den für Ehrengäste vorbehaltenen Flügel, der seit ihrer Ankunft fest in der Hand der zeridianischen Tempelwächter lag. Als Hauptmann der Truppe war er vor Ort für die Sicherheit des Hohepriesters verantwortlich, und was er gerade draußen gesehen hatte, stellte womöglich eine ernste Bedrohung für den Chohén dar. Er nickte den beiden Kameraden zu, die das Schlafgemach seines Schutzbefohlenen bewachten, und klopfte an die Tür.
    »Herr Adriël, seid Ihr schon wach?«
    »Komm nur herein, Pyron«, antwortete es von drinnen.
    Forsch betrat er den Raum. Der Hohepriester legte keinen Wert auf unterwürfige Gesten. Er sah sich als erster Diener der Kinder des Lichts, die für ihn unabhängig von Stand und Geburt alle Brüder und Schwestern waren. Pyron verneigte sich trotzdem, ein Zeichen seines großen Respekts gegenüber dem rechtmäßigen Amtsnachfolger Elis.
    Adriël erhob sich aus dem Stuhl am Arbeitstisch beim Fenster, vor ihm lag aufgeschlagen das heilige Buch Jaschar . Er war ein Neffe des von Gaal ermordeten Hohepriesters und somit ein Vetter von Shúria. Wie die ganze Familie stammte er aus Zeridia. Wer ihm zum ersten Mal begegnete, reagierte gewöhnlich überrascht. Die meisten stellten sich den höchsten Priester Gaos und damit einen der mächtigsten Männer von Berith als weißhaarigen Greis vor. Adriël dagegen war gerade einundvierzig Jahre alt.
    Mit seiner hochgewachsenen, kraftvollen Statur hätte er auch als Tempelwächter eine gute Figur abgegeben. Die von dichten Brauen überwölbte Augenpartie, vorspringende Wangen- und ausgeprägte Kieferknochen sowie ein spitzes Kinn verliehen seinem schmalen Gesicht etwas Verwegenes. Sein gestutzter Vollbart war ebenso wie das lange Haupthaar pechschwarz. Letzteres hatte er in zehn Zöpfe geflochten – die Zahl symbolisierte Vollständigkeit.
    »Tritt näher«, rief Adriël. Er trug Sandalen und das knöchellange, weiße Amtsgewand des Chohén.
    Mit weit ausholenden Schritten durchmaß der Hauptmann das Zimmer. Unter seinen Stiefeln knarrten die Dielen. Das Gemach war mit kostbaren Hölzern getäfelt, die von

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