Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung
vor an Ischáhs Seite klebte.
»Hat das Onkel Lauris gemacht?«, erkundigte sich Ari neugierig.
»Ich fürchte, ja«, erwiderte sie.
»Warum tut er so etwas?«
»Zur Abschreckung«, antwortete Almin und lachte. »Ziemlich wirkungsvoll, wenn ihr mich fragt.«
»Und vielleicht auch als Wegweiser«, fügte Ischáh hinzu. Sie lenkte ihren Donnerkeil auf das grasbewachsene Uferstück neben dem toten Antisch zu.
Als Narimoth an der Leiche vorbeischwamm, machte Shúria eine weitere sonderbare Entdeckung. Die Insektenschwärme im offenen Bauchraum des Dagonisiers waren keine Fliegen. »Bienen?«, murmelte sie überrascht.
Ischáh nickte. »Unsere emsigen Schwestern suchen sich gerne solche Plätze. Ihr Honig soll besonders wohlschmeckend sein.«
»Na danke«, grunzte Reibun.
Der Donnerkeil schob seinen Kopf aufs Ufer, der Rest seines gewaltigen Leibes dümpelte weiter im Wasser. Die Männer öffneten die vorderen zwei Segmente der Kristallkuppel, und Shúria stürzte ins Freie. Trotz Ischáhs Warnung sprang sie ins Gras.
»Lauris!« Immer wieder rief sie seinen Namen. »Ich bin’s. Shúria.«
Ari schloss sich ihrem Rufen an. Ischáh blieb in der geöffneten Kiemenkapsel, und ihre Mannschaft machte auf den Schwingen des Donnerkeils die Steinschleudern bereit.
Auf einmal raschelte es vor Shúria in den Büschen. Zwischen den Blättern bewegte sich etwas. Sie sah eine Gestalt.
Und blass gestreifte Antischhaut.
Ihre Nackenhaare sträubten sich. Eine Falle! Sie wirbelte herum, lief mit schützend ausgebreiteten Armen auf Ari zu und rief: »Das ist ein Hinterhalt …«
»Fürchtet euch nicht!«, unterbrach sie eine wohlklingende Stimme im Zeridiadialekt.
Shúria blieb sofort stehen und drehte sich um. »Lauris?«
Aus dem Buschwerk trat ein Mann mit einem Dreizack hervor, dessen Anblick sie ebenso schaudern wie frohlocken ließ. Sein athletischer Körper steckte in einem ärmellosen Wams und engen Hosen aus Antischhaut. Vom wilden Haupt hingen blauschwarze, verfilzte, lange Zotteln, und auch der Bart hatte seit geraumer Zeit kein Schermesser mehr gesehen. Selbst auf die Entfernung konnte sie seinen Gestank wahrnehmen, eine Mischung aus Schweiß, Verwesung und Urin. Dieser Mensch erschien Shúria so fremd wie nur irgendwer.
Lediglich seine samtweiche Stimme und die tiefblauen Augen hatten sich nicht verändert.
Die Wiedersehensfreude überwog letztlich den Abscheu vor seinem Äußeren und dem üblen Geruch. Sie lief auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. »Lauris. Ich hätte nie zu hoffen gewagt, dich jemals wiederzusehen.«
»Damit war auch nicht zu rechnen. Gulloth hat mich in ein Tier verwandelt. Und wer ist dieser vorsichtige Jäger?« Er deutete auf Ari, der scheu Abstand hielt.
»Das ist mein kleiner Löwe Ari, der Sohn von Taramis und mir. Er ist ein Finder und hat uns zu dir geführt.«
»Dann sollte ich ihm danken.« Lauris legte seinen dreizackigen Speer nieder, ließ sich vor dem Jungen auf ein Knie herab und ergriff seine Hände. »Ich stehe in deiner Schuld, tapferer Jäger.«
Ari zuckte die Schultern. »Ist schon gut. Warum trägst du diese Antischhaut?«
»Ich hatte nichts anzuziehen.«
»Trug der Dagonisier denn keine Kleidung?«
»Seine Rüstung war mir viel zu groß, und mir fehlte das nötige Handwerkszeug, um sie für mich zurechtzuschneidern.«
»Die Anziehsachen stinken bestialisch, Onkel Lauris.«
Der lachte. »Das liegt an den Zutaten, mit denen ich das Leder des Fischkopfes gegerbt habe.«
»Das ist wohl nicht der einzige Grund«, sagte Shúria streng. »Du solltest dringend ein Bad nehmen, sonst lässt Ischáh dich nicht in die Kiemenkapsel.« Sie deutete zum Donnerkeil.
»Das würde mich auch nicht stören«, erheiterte sich Lauris. »Hauptsache, ich komme nach Jâr’en.«
»Wieso nicht nach Zeridia?«
»Wir müssen so schnell wie möglich den Hohepriester vor der dunklen Wolke warnen.«
»Ich glaube, das ist nicht nötig«, widersprach sie. »Von meinem alten Lehrer Veridas weiß ich, dass sie auf verschiedenen Inseln gesichtet wurde. Ich möchte zuerst Taramis suchen. Er ist in großer Gefahr.«
»Shúria, ich kann deine Sorge verstehen, doch hier geht es nicht lediglich um ein Himmelsphänomen. Ich habe erlebt, was die Wolke mit den Geschöpfen auf dieser Insel angestellt hat. Sie waren wahnsinnig vor Angst. Und in den fünf Tagen, seit ich dir die erste Geistbotschaft geschickt habe, bin ich einem grauenvollen Geheimnis auf die Spur gekommen. Ich habe mehrere Tiere
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