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Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung

Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung

Titel: Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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erobert habe.«

20. Der Tyrann von Zior
    E in eisiger Sturm fegte über Zior hinweg, die Insel war in den Klauen des Kälteeinbruchs wie erstarrt. Sogar die gleichnamige Hauptstadt schien im Winterschlaf zu liegen – der Sommer kam spät, hier am unteren Ende des Himmelsspeers, wo die Menschen weißes Blut hatten, große Hautflügel und keine Unterschiede zwischen Mann und Frau erkennen ließen. Nur selten verirrten sich Fremde hierher, die Zioraner lebten wie Einsiedler in ihrem entlegenen Reich.
    In dieser stürmischen Nacht hatten sich die meisten in ihre kegelförmigen Häuser verkrochen, und nur wenige erblickten die zwei Reiter, die wie aus dem Nichts erschienen. Woher die vermummten Gestalten wohl stammten? Und wie waren sie nach Zior-Stadt hineingekommen? Zu dieser Zeit und bei diesem Wetter öffneten sich die Tore nur für den Tyrannen – so lautete der offizielle Titel des Herrschers. Schweigend ritten sie vorüber, die Gesichter in dicken Wolltüchern vergraben. Und so überraschend sie aufgetaucht waren, so schnell verschwanden sie auch wieder in der Nacht. Im dichten Schneegestöber reichte der Blick nicht einmal bis zur anderen Gassenseite.
    Weil sich die beiden ein einziges Reittier teilten, sah es so aus, als striche ein dreiköpfiges Ungeheuer durch die Stadt. Ihr Pferd hatte zwei Hörner. Hinzu kamen der Kopf eines Hundes, die Tatzen eines Tigers und die Schwingen eines schwarzen Engels. Selbst für die geflügelten Bewohner von Zior war es ein beunruhigender Anblick.
    »Wenn wir noch lange durch die Kälte irren, kannst du mich als Eiszapfen in den Schnee stellen und im Sommer wieder abholen«, knurrte Jagur. Er saß vorne, um nicht die ganze Zeit den Rücken seines Freundes anzustarren. Dadurch war er allerdings dem eisigen Wind ausgesetzt, was seine Laune nicht unbedingt hob. Die übrigen Gefährten warteten im Meer vor der Insel, wo die Temperaturen deutlich erträglicher waren.
    »Bis zum Palast ist es nicht mehr weit«, antwortete Taramis einsilbig. Im Gegensatz zu seinem Begleiter fror er kaum, weil er unter seinem Mantel das Hemd Leviat trug, das ihn vor der Kälte schützte.
    »Bist du sicher? Man sieht die Hand vor Augen nicht.«
    »Ich habe mir heute Vormittag alles genau eingeprägt.« Sie hatten die Scholle vor dem Ausbruch des Sturmes gründlich ausgekundschaftet. In den vorausgegangenen vier Tagen ihrer Reise von der Zentralregion ans Ende des Himmelsspeeres waren sie von Siath auf den Besuch vorbereitet worden. Ihr Wissen über Lebewesen jeglicher Art schien unerschöpflich zu sein. Die Ganesin hatte die Haltung der Zioraner gegenüber Fremden als sehr zurückhaltend beschrieben, was an dem verbreiteten Unverständnis lag, das man ihren Sitten und Bräuchen entgegenbrachte. Auf Zior herrschte ein strenges Kastensystem: Ganz unten standen die Sklaven und oben der Tyrann.
    Allon schritt auf einen großen Platz hinaus. Der Wind pfiff den Reitern um die Nasen. Im Flockengewirbel war das weite Oval unmöglich zu überblicken, doch Taramis entsann sich, dass am gegenüberliegenden Ende der Palastbezirk begann.
    Während das Ippo sich durchs Schneegestöber kämpfte, fielen ihm wieder Siaths Schilderungen über die scheinbar so zerbrechlichen Flügelmenschen ein. In Wahrheit seien sie zäh wie Klapperschlangen, hatte sie gesagt. Eine zioranische Hand, die einem an der Gurgel hing, würgte einen selbst dann noch weiter, wenn man sie vom Arm abschneide.
    Weniger gesprächig war die Ganesin gewesen, als sie die »bisweilen als abschreckend empfundene Art der Fortpflanzung« der Zioraner angesprochen hatte. In vagen Andeutungen habe ihr Vater von einer grausamen Laune der Natur gesprochen, von einer tiefen Kluft zwischen den Weißblütern und der übrigen Menschheit.
    Taramis wollte sich der verbreiteten Voreingenommenheit gegen die Geflügelten schon aus Prinzip nicht anschließen. Er gehörte selbst einem Volk an, dessen Angehörige wegen ihrer Kiemenspalten häufig gemieden wurden. Deshalb nahm er keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten jener, die sich als »richtige Menschen« betrachteten. Er konnte es sich auch nicht leisten.
    Zwar kam er als offizieller Botschafter des Hohepriesters nach Zior, doch im Grunde war er ein Bittsteller. Vom Tyrannen erwartete er sich die dringend benötigten Antworten, um endlich Licht ins Geheimnis der dagonisischen Umtriebe zu bringen. Es konnte kein Zufall sein, dass sein Erzfeind immer wieder als Flügelmensch in Erscheinung getreten war.

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