Die Zeugin: Thriller (German Edition)
stemmen, wurde fast überwältigend stark. Das Echsengehirn schrie: Luft. Licht. Raus. Die Dunkelheit drückte alles nieder.
Noch immer hielt sie Boones Telefon in den vom kalten Wasser zitternden Fingern. Planlos tatschte sie auf die Tasten.
Das Display sprang an und warf ein schwaches blaues Licht. Jäh und schattenhaft blitzten die Konturen der Wände auf. Der Tunnel lief geradeaus. Endlos geradeaus.
Dann erlosch das Display, und im Rohr wurde es stockdunkel. Von hinten näherte sich etwas, ein Geräusch, das vom gleichmäßigen Dröhnen des Wassers im Rohr abstach. Wie ein Raubfisch auf der Jagd. Der Anzugträger.
Rory schwamm weiter, so schnell sie konnte.
A ls sie endlich von dem Kanalrohr ausgespuckt wurde, japste sie verzweifelt nach Luft. Der Fluss wurde hier ein wenig ruhiger und wälzte sich dahin wie eine schwere, braune Schlange. Hoch über den Betonufern tauchte die Sonne die Welt in einen bleichen Schimmer.
Keine Spur von Seth.
Rory fuhr herum und machte einen Schritt auf den Tunnelausgang zu. Konnte es sein, dass sie ihn da drinnen verpasst hatte? Nein.
Sie spähte flussabwärts und suchte die Uferböschung zu beiden Seiten ab. Es war ein trockener Tag. Wenn er aus dem Wasser geklettert war, hätte sie nasse, schlammige Fußabdrücke sehen müssen.
Plötzlich traf sie von hinten ein schwerer Gegenstand, der sich anfühlte wie durchweichtes Fleisch. Schreiend wirbelte sie herum. Bemerkte eine Hand. Eine Männerhand, die schon wieder wegdriftete.
Hinter der verschwindenden Hand ein marineblaues Jackett. Manschettenknöpfe.
Der Anzug rollte durchs Wasser. Die Haut seines Trägers war blass wie ein Fischbauch. Sein Mund klaffte auf, voller Wasser, und die Augen starrten leer. Nach der nächsten Drehung wurde er mit dem Gesicht nach unten weggeschwemmt.
»Herr im Himmel.«
Zitternd watete sie zum Ufer. Ihre Beine fühlten sich an, als könnten sie jeden Moment unter ihr wegknicken wie Streichhölzer.
Sie kletterte über die Betonkante, dann stolperte sie vorwärts und hielt nach beiden Seiten Ausschau. Mit dem Ellbogen wischte sie sich übers Gesicht. Wollte atmen und bekam keine Luft.
Sie war allein.
Dreihundert Meter weit lief sie an der Böschung entlang, bis der Fluss brüllend in den nächsten unterirdischen Kanal verschwand. Am Eingang hatten sich Äste und Müll verfangen. Schäumend strömte das Wasser weiter. Der Anzugträger tauchte kurz auf und stieß gegen das festgehakte Holz, dann wurde er in den Tunnel gezogen. Rory wandte sich ab.
Seth war verschwunden.
Lange blieb sie reglos stehen und versuchte sich einzureden, dass sie sich irrte, dass es eine Möglichkeit geben musste, ihn zu finden. Wenn sie es sich nur fest genug wünschte, brauchte sie sich nur umzudrehen, dann würde er lächelnd vor ihr stehen und sagen: Ich bin da.
Der Wind blies stärker, und sie fing an zu frieren.
Addie.
Zitternd hielt sie sich am Zaun fest und zog sich mühsam hoch. Sie fühlte sich klein und wacklig, wie damals mit zwölf. Dann schwang sie sich hinüber und sprang auf den Schotterbelag. Holte tief Luft und rannte.
O bwohl ihr kalt war, bekam sie schon bald die zweite Luft. Sie hatte erst drei Kilometer hinter sich. Pitschnass, mit scheuernder Jeans und in Schuhen, aus denen das Wasser quoll. Doch laufen konnte sie noch. Und das war auch notwendig.
Boone war bestimmt schon unterwegs zu Ambers Haus. Mirkovic ebenso.
Rory konnte nur auf etwas setzen, das Boone hoffentlich nicht berücksichtigt hatte. Auf der anderen Seite des Hügels lag das Ackergrundstück ihrer Eltern mit dem Werkstattschuppen. Unter einer Plane parkte der El Camino. Der Elco, den ihr Dad regelmäßig wartete und jeden Monat anließ. Dessen Ersatzschlüssel in einer Magnetbox im rechten hinteren Radkasten versteckt war.
Als es bergab ging, zog sie das Tempo an. Völlig ausgepumpt erreichte sie den Schuppen und öffnete das Kombinationsschloss. Mit einem lauten Scharren ging das Tor auf. Drinnen wartete das Auto im staubigen Sonnenlicht. Hastig entfernte sie die Plane.
Dann kniete sie sich neben den Radkasten und tastete nach der Schlüsselbox. Die Fahrertür knarrte, als sie sie öffnete. Drinnen war es stickig und heiß. Sie drehte den Schlüssel, und der Anlasser gab ein knirschendes Geräusch von sich.
»Komm schon.«
Sie spähte durch die Windschutzscheibe. Lang und schnittig lag vor ihr die Motorhaube, rot wie ein Feuerlöscher. Federleicht tippte sie aufs Gaspedal.
Stotternd erwachte der Motor zum Leben. Ja.
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