Die Zeugin: Thriller (German Edition)
hinaufkletterte. Doch mit einem Aufschrei fiel er wieder nach unten und schüttelte fluchend die Hände. »Jetzt kann dir auch Seth nicht mehr helfen, Rory«, brüllte er ihr nach.
»Er ist nicht über den Zaun gestiegen«, flüsterte Petra.
»Seine Hände sind verbrannt.« Anscheinend hatte ihm der Maschendraht zu stark in die Haut geschnitten.
Krachend fiel die Tür des Lasters zu, kurz darauf röhrte der Motor wieder los.
Rory hatte Mühe, sich in der aufgewühlten braunen Brühe auf den Beinen zu halten. Um mehr Balance bemüht, steckte sie das Handy wieder weg. Der Beton war glitschig, und sie konnten nicht gegen die Strömung ankämpfen, die sie flussabwärts drängte.
Rory konnte genau erkennen, wie der Fluss ein Stück weiter vorn in den Kanal mündete: drei zweieinhalb Meter hohe Rohre aus Beton, die mit ihrer Schwärze und ihrem dumpfen Hall das helle Sonnenlicht und das schäumende Wasser zu verschlingen schienen.
Mit pochenden Schläfen beugte sie sich vor. Bloß nicht den Halt verlieren. Wenn ich hinfalle, werde ich mitgezogen.
Sie schaute nach hinten. Boones Laster entfernte sich im Rückwärtsgang.
Plötzlich rutschte Petra aus und verfing sich zwischen Rorys Füßen. Rory ging in die Knie und streckte reflexartig die Hände aus, um sich abzustützen. Mit kaltem Brausen schwappte das Wasser über sie hinweg.
»O Gott«, schrie Petra.
Sie wurde von Rory losgerissen und in die Strömung geschleudert. Wild um sich schlagend, wurde sie sofort abgetrieben.
Unaufhaltsam zerrte der Strudel sie mit sich, auf den dunklen Dreifachschlund zu.
D as Gaspedal bis zum Anschlag durchgedrückt und das rüttelnde Lenkrad fest im Griff, raste Seth dahin. Der Pick-up schaukelte über die holprige Schotterstraße neben dem Maschendrahtzaun über dem Ransom River.
Der Wagen hüpfte über eine Anhöhe, und dann lag es vor ihm, vierhundert Meter weiter. Durch Staub und aufsprit zenden Splitt schoss Seth auf den Kanaleingang zu, in den mindestens hüfthoch das Wasser rauschte. Er bemerkte Trümmer, die in der Strömung trieben. Bloß von Rory keine Spur.
Schlingernd stoppte er, ohne den Motor auszuschalten. Er zog einen Hemdzipfel über seine Glock, schob die Tür auf und stellte sich in den Rahmen. Dann entdeckte er Rory, die von den Fluten umspült wurde und sich gerade hochrappelte. Ein Stück vor ihr wurde Petra von der Strömung mitgerissen.
»O nein!«
E ndlich war Rory wieder auf den Beinen und stapfte, so schnell sie konnte, Petra hinterher. Vor ihr klaffte die tosende Kanalöffnung. In nur wenigen Sekunden waren sie fast hundert Meter flussabwärts geschwemmt worden.
Mit kreischendem Motor wurde der Abschlepplaster hochgeschaltet.
Wild um sich schlagend, kämpfte Petra gegen die Strömung an, um wieder auf die Füße zu kommen. Die Rohre schienen sie förmlich anzusaugen. Rory rannte, vor ihren Beinen spritzte das Wasser auf, doch der Fluss ließ sie hinter sich. Hilflos musste sie zusehen, wie Petra auf den Kanal zutrieb.
Und gegen den verrosteten Einkaufswagen prallte.
Sie verfing sich zwischen Korb und Rädern wie zwischen den zwei Hälften eines Kiefers.
Dann hörte Rory etwas anderes: einen zweiten Motor. Sie blickte auf. Auf der Schotterstraße über dem anderen Flussufer hatte Seths Pick-up in einer Staubwolke angehalten. In Sekundenschnelle war er über den Zaun und glitt die Böschung herunter.
In diesem Augenblick rammte flussaufwärts der Ab schlepplaster den Zaun. Krachend und scheppernd riss er mit seiner starken Stoßstange ein drei Meter breites Stück Maschendraht nieder. Sofort kletterte der Anzugträger durch die Lücke.
Petras Gesicht hing nur noch knapp über dem Wasser. Platschend gelangte Rory zu dem Einkaufswagen und versuchte, Petra von ihm zu lösen. Die Strömung sprudelte wie ein kaputter Hydrant. Wenn sie Petra nicht fest in den Griff bekam, würde sie ihr durch die Hände rutschen wie ein Fisch. Rory kämpfte sich hinter den Einkaufswagen, um Halt zu finden. Da sprang auch schon Seth in den Fluss und stapfte auf sie zu. Zusammen befreiten sie Petra aus der Falle, und Rory sicherte sie gegen die Gewalt des Wassers.
Seth zerrte Petra vollends auf die Füße. »Los.«
Rory schlang den Arm um Petras Hüfte, und nebeneinan der wateten sie zum gegenüberliegenden Flussufer. Seth folgte mit der Hand auf Rorys Rücken. Mühsam half Rory ihrer Freundin auf die Betonböschung, die unter ihren nassen Füßen glatt und steil war wie eine Spielplatzrutsche. Auf allen vieren
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