Die Zeugin: Thriller (German Edition)
kroch Petra die Steigung hinauf.
»Rauf mit dir, Rory.« Seth drehte sich um und baute sich schützend hinter ihr auf.
Mirkovics Gorilla trabte am anderen Ufer heran, schwer und wuchtig. Rory kletterte die Böschung hoch.
Boone rief irgendetwas.
»Schnell«, mahnte Seth.
Petra erreichte das obere Ende des Zauns und purzelte hinüber.
Plötzlich krachte es tief und schockierend laut. Ächzend warf sich Rory auf den Beton. Ein Schuss. Mächtiger als aus einer Pistole.
Auf der anderen Flussseite näherte sich Boone mit einer mattschwarzen Schrotflinte in der Hand. Er hob sie an die Schulter und feuerte zum zweiten Mal.
Die Kugel krachte in ein Kanalrohr. Betonstaub wirbelte auf. Seth stand mit dem Gesicht zu Boone im Fluss.
Rory rappelte sich hoch. »Seth …«
Boone lud mit einer Hand nach und legte das Gewehr erneut an.
»Schluss, Boone. Sch…« Seths Stimme brach ab. Er stürzte, bevor sie etwas hörte.
Seth bekam den Schuss voll in die Brust und sackte zusammen, als hätte ihn ein Rammbock getroffen. Wie ein Peitschenschlag drang der Knall an Rorys Ohren. Seth stürzte und versank in den braunen Fluten.
Rory rutschte die Böschung hinunter, sprang zurück in den Fluss und watete rudernd auf ihn zu. Seth tauchte auf, den Kopf im Nacken, die Arme ausgestreckt, schon riss ihn die Strömung in das Kanalrohr. Dann war er verschwunden, als hätte jemand eine Tür hinter ihm zugeschlagen.
Haltlos schlitterte sie auf die Stelle zu, wo er gestanden hatte.
Von oben kam Petras Stimme: »Nein – Rory, nicht.«
Sie lief weiter.
Hinter ihr schrie Boone: »Stehen bleiben!«
Braun schäumend schoss das Wasser in das Rohr. Rory wusste nicht, ob sie noch atmete. Wieder peitschte ein Schuss durch die Luft. Von der Wand krachten Betonsplitter. Rory sprang zur Seite und riss die Hände schützend vor den Kopf.
»Stehen bleiben«, brüllte Boone.
Bis zu den Schenkeln im Wasser, drehte sie sich langsam um. Zehn Meter von ihr entfernt auf der müllübersäten Böschung hatte Boone mit der Schrotflinte auf sie angelegt.
»Lauf, Petra«, rief sie.
Petra zögerte.
»Das ist deine einzige Chance. Fahr zum Sheriff’s Department. Hol Hilfe. Los. «
Kurz darauf kletterte Petra in Seths Pick-up und raste auf der Schotterstraße flussabwärts davon.
Bitte, dachte Rory. Bring die Sheriffs her.
Im Fluss zog ein Ast an ihr vorbei. Bei dieser starken Strömung war Seth bestimmt schon hundert Meter hinter dem schwarzen Rachen des Kanalrohrs. Das Hämmern in Rorys Schläfen wurde so stark, dass sie fast nichts mehr sah.
Boone stapfte auf sie zu. Neben ihm der Anzugträger. Rory griff in ihre Tasche und reckte Boones Telefon in die Höhe. Die zwei konnten nicht erkennen, dass es nass und kaputt war.
Ihre Stimme musste gegen das laute Rauschen ankämpfen: »Die Cops sind schon unterwegs. Sie haben alles mitgehört.«
Durch Boones zornige Miene drang ein unsicheres Flackern. Dann hob er das Gewehr.
Rory schaute ihm direkt in die Augen und breitete die Arme aus. Dann ließ sie sich rückwärts in die rauschenden Fluten fallen und wurde ins Dunkel gezogen.
50
Das Wasser strömte über Rorys Kopf. Die Welt verdüsterte sich zu Braun, und alle Geräusche wurden zu einem gleichmäßigen Tosen. In rasendem Tempo riss der Fluss sie durch das Betonrohr.
Als sie auftauchte, holte sie kurz Luft und blickte zurück. Schwankend wich der Lichtkreis am Tunneleingang zurück. Winzig wie ein Pfeil lief Boone darauf zu.
Sie versuchte aufzustehen. Das Wasser reichte ihr bis zur Hüfte, und sie bewegte sich schneller, als sie laufen konnte. Heilige Scheiße.
Über die Decke des Tunnels zog ein Schatten. Erneut spähte sie zurück. Boone ragte noch immer vor dem kleiner werdenden Eingang auf, doch den Anzugträger sah sie nicht. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie, als wäre ein Alligator hinter ihr ins Wasser geglitten.
Schwimmend rief sie Seths Namen.
Er war mit dem Gesicht nach oben in den Fluss gefallen. Nur mit dem Kopf über Wasser hatte er eine Chance. Wenn er sich gedreht hatte … Schwarze Angst drohte sie zu verschlingen.
Dann war auch das letzte Licht erloschen. Gelegentlich tauchte sie auf und versuchte zu atmen, ohne das kalte, schmutzige Wasser zu schlucken. Immer wieder wurde sie von der Strömung an die Wand des Tunnels geworfen.
Das andere Ende des Rohrs hatte sie noch nie gesehen. Möglicherweise war der Ausfluss mit einem Stahlgitter gesichert. Dann saß sie in der Falle. Der Drang, sich gegen die Strömung zu
Weitere Kostenlose Bücher