Die Zeugin: Thriller (German Edition)
ihr Leben anvertrauen konnte, war etwas Seltenes und Besonderes. Nach der Flucht aus dem Fluss war Petra an diesem Tag mit Seths Wagen losgefahren – und hatte ihn auf der anderen Seite des Kanals entdeckt, als er gerade verletzt die Böschung hinaufkletterte. Danach waren sie sofort umgekehrt, doch Rory war verschwunden. Um Addie zu Hilfe zu eilen, hatte Seth zunächst Petra an einem sicheren Ort abgesetzt und war dann hinüber zu Ambers Haus gerast, wo er mitten in die Auseinandersetzung hineinplatzte.
Der Sonnenaufgang erfüllte das Wüstenbecken mit strahlendem Weiß. Rory setzte die Sonnenbrille auf. Hinten im Wagen hob Chiba den Kopf, um vorbeiziehende Palmlilien und rote Felsen zu beobachten.
Die Bundesstaatsanwaltschaft hatte die Untersuchung des Überfalls aufs Gericht an sich gezogen. Detective Xavier saß in Haft, und Grigor Mirkovic stand unter Anklage wegen Anstiftung zum Mord. Der Verdacht gegen Rory war ausge räumt worden. Man hatte sie ausführlich vernommen und ihr zu verstehen gegeben, dass sie bei den entsprechenden Prozessen als Zeugin auftreten musste. Allerdings war sie nicht ortsgebunden, denn die Bundespolizei konnte jederzeit zu ihr Kontakt aufnehmen.
Darüber hinaus hatte man ihr vorläufig die Vormundschaft für Addie übertragen. Amber hatte sich bereit erklärt, die Kleine Rory zu überlassen – für einige Wochen, Monate, viel leicht auch mehr –, bis Riss wieder auftauchte. Rory war klar, dass Riss durchaus die Fähigkeit hatte, länger unsichtbar zu bleiben. Auf jeden Fall war mit ihrer Rückkehr zu rechnen, und wenn es dazu kam, sollte Addie möglichst weit weg sein.
Sie ließ das Fenster nach unten rollen. Die Mohave-Wüste hatte sich noch nicht aufgeheizt, und sie genoss die frische Luft. In weiter Ferne sägte sich violett und braun ein Bergzug nach dem anderen in den Himmel. Vorn schoben sich schon die Sierras ins Bild. Sie war unterwegs ins Nirgendwo.
Und sie hatte Geld in der Tasche. Mehr als je zuvor in ihrem Leben. Auf jeden Fall genug.
Vor dem Abschied aus der Stadt hatte sie beim FBI angerufen und das Versteck der Beute aus dem Raub gemeldet. Ihre Eltern hatte sie dabei aus dem Spiel gelassen. Sie erzählte den Beamten, dass sie im Alter von neun Jahren eines Tages zusammen mit ihren Cousins und Lee Mackenzie in einem alten Lieferwagen in den Nationalforst gefahren war. Zu einem Angelausflug, wie er behauptete. Erst jetzt sei ihr klar geworden, dass das nur der Tarnung diente. Er hatte die Kinder am See allein gelassen und war erst nach Stunden schmutzig und erschöpft zurückgekehrt.
Das Bureau konnte ihre Geschichte nicht widerlegen und sie auch nicht dafür verantwortlich machen, was sie als Neun jährige gesehen hatte. Die Beamten folgten ihrer Beschreibung und entdeckten das Geld.
Rory bekam den Finderlohn.
Einen Teil davon deponierte sie auf einem Treuhandkonto für Addie. Sie bezahlte ihre Rechnungen und behielt genug Geld, um monatelang reisen zu können. Zehntausend Dollar stiftete sie der Schule, an der sie im Friedenskorps unterrichtet hatte.
Den Rest spendete sie Asylum Action. Damit konnte die Hilfsorganisation mindestens zwei Jahre lang arbeiten und hatte Zeit, ein solides finanzielles Fundament aufzubauen. Und die Flüchtlinge, denen sie geholfen hatte, hingen nicht mehr in der Luft.
Die Berge schwebten über dem Horizont und schienen sie zu sich zu winken. Sie war auf der Suche nach Sicherheit. Zusammen mit einem kleinen Mädchen, das Liebe und Fürsorge brauchte und das nicht in Ransom River aufwachsen sollte, wenn es nach Rory ging.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Die zweispurige Straße erstreckte sich vor ihr, soweit das Auge reichte. Doch ein Stück weiter vorn glitzerte Glas. Eine Minute später bog sie in eine alte Tankstelle mit Imbiss.
Um den Subaru wirbelte der Staub, als sie stoppte. Er wehte vorbei an dem Lokal und an einem verblichenen Wandgemälde des Weltraumzeitalters mit Sternen, Mond und einer dahinzischenden Saturn-V-Rakete.
Aus einem wartenden schwarzen Pick-up kletterte Seth.
Seine Bewegungen und sein Atem waren wieder lockerer geworden. Nur die Schultern hielt er weiterhin geneigt. Wenn sein verwegenes Teufelskerlgrinsen noch existierte, dann nur im Verborgenen. Selbst jetzt, selbst ihr gegenüber, gab er ungern etwas von sich preis.
Sie parkte und wandte sich nach hinten zu Addie. »Bin gleich wieder da, Spatz.« Sie stieg aus.
»Gutes Timing«, sagte Seth.
»Du weißt, dass ich schnell bin.«
Trocken strich
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