Die Zeugin: Thriller (German Edition)
sich alles. Sie spurteten durch das Seitentor von Rorys Elternhaus und warfen es zu. Dann beugten sie sich keuchend vor, die Hände auf die Knie gestützt.
»Alles okay?«, fragte Seth.
Sie nickte. »Du hast einen großen, roten Fleck an der Wange.«
Er berührte die Stelle und zuckte die Achseln. Dann grinste er. »Er ist uns nicht gefolgt.«
Langsam richtete sie sich auf. Obwohl sie Seitenstechen hatte, fühlte sie sich unglaublich gut.
Doch in dieses Gefühl mischte sich erneut Angst. »Das muss er auch nicht.«
23
Seth holte sie unter der riesigen Softeiswaffel des Dairy Queen ab. Rory zog die Tür des Pick-up zu, und er lenkte den Wagen zurück in den Verkehr.
»Was war denn mit Riss?«, fragte er.
»Sie hat mir gedroht. Vage. In ihrer aggressiven Borderline-Art.«
»Womit?«
»Scherereien. Negative Medienreaktion, wenn ich nicht mit ihr …« Sie rieb sich die Augen. »Enthüllungen. Demütigung.« Langsam atmete sie durch. »Vielleicht dreh ich auch bloß allmählich durch.«
»Du drehst nicht durch.«
Sie schaute ihn an. »Nein, stimmt. Aber was will sie? Mir mal wieder eins reinwürgen?«
E s dauerte vierundzwanzig Stunden. Vierundzwanzig Stunden, nachdem Boone Seth brutal niedergeschlagen und Rory einen Stiefelabdruck am Kopf ihres Cousins hinterlassen hatte.
Nach dem Läuten der Glocke an der East River Middle School packte Rory am Spind umgeben von Lärm ihren Rucksack voll. Jeden Freitagnachmittag wurde eine Energie entfesselt, als würden tausend Heliumballons gleichzeitig aufsteigen. Ihr Heimweg führte eineinhalb Kilometer weit durch flache Vorstadtstraßen. Rorys Dad war mit den Forest Rangers in der Sierra Nevada, und ihre Mom kam erst nach fünf Uhr Nachmittag von der Highschool nach Hause. Es war ein sonniger Tag.
Gegenüber dem Schulgelände lag eine Plantage mit dunkel grünen, schwer mit Früchten beladenen Zitronenbäumen. Durch diese Plantage verlief ein Feldweg, doch diese Abkürzung war den coolen Kids vorbehalten. Denn dort veränderte eine perfide Magie die Schulregeln. Wer sich zwanzig Meter weit zwischen die Bäume wagte, dem konnte auch der Rektor nicht mehr helfen.
Rory machte stets einen Bogen um diesen Schleichweg, auch wenn der Gedanke daran ihr Herz schneller schlagen ließ. Sie hätte keine drei Schritte darauf machen können, ohne gestoppt zu werden. Seth dagegen benutzte den Pfad. Er konnte seine Jeans herunterhängen, die Hundekette aus der Tasche baumeln und sich das Haar in die Augen fallen lassen – und kam damit durch. Seth bewegte sich zwischen den Welten. Schon damals.
Boone schlug immer den Feldweg ein. Riss dagegen nur selten. Normalerweise blieb sie nach dem Unterricht noch zu Theater- oder Tanzproben an der Schule. Amber holte sie später ab.
Wie immer hielt sich Rory schön auf dem Gehsteig der Treacher Avenue am Saum der Plantage. Nachdem sie sich einen Block von der Schule entfernt hatte, traten plötzlich vier Mädchen zwischen den Bäumen hervor und umringten sie.
Chelly Stasio fiel sofort über sie her: »Wir wissen, was du mit Boone vorhattest.«
»Wovon redest du?«
Britiny Glover machte einen Schritt nach vorn. »Das ist widerlich.«
Linda Rich packte Rorys Rucksack. »Hast du da drinnen dein Tagebuch? Wo du schreibst, dass Boone dein Traumlover ist?«
Rory fuhr herum, um Linda abzuschütteln, aber die Vierte, Crystal Glass, versetzte ihr einen Stoß. Sie stolperte, und nach dem nächsten Schubs landete sie in der Plantage.
»Du bist pervers«, zischte Linda.
Rory wusste, dass sie in der Klemme saß. Wenn sie sie noch tiefer zwischen die Bäume reinbugsierten, war sie Toast. Und darauf hatte sie keine Lust. Sich zu wehren hatte keinen Sinn, denn bei vier gegen eine standen die Chancen nicht unbedingt gut. Aber sie wollte auch nicht weglaufen, nur um dann für immer an der Schule als Feigling verschrien zu sein.
Die Mädchen waren Riss’ Anhängerinnen. Sie saßen bei ihr am Mittagstisch und gingen zusammen mit ihr zum Unterricht. Rory zweifelte keine Sekunde, dass Riss sie aufgehetzt hatte.
Linda war die größte und lauteste. Sie führte sich auf wie ein zischender Feuerwerkskörper. Stürzte einfach nach vorn und rammte Rory. »Dein Cousin. Dein eigener Cousin . Uähh.«
Rory schubste sie weg. »Hör schon auf. Du weißt doch gar nicht, was du da sagst.«
»Du hast ihn in das Kanalrohr gelockt«, schimpfte Linda. »Und als er drin war, hast du deine Hose runtergezogen, du Miststück.«
»Das stimmt nicht. Das ist gelogen.
Weitere Kostenlose Bücher