Die Zeugin: Thriller (German Edition)
sie.
Vorn machte die Straße eine Kurve und verzweigte sich zu einem V. Den Seitenstreifen säumte eine Reihe Eukalyptusbäume.
Seth beschleunigte und orientierte sich auf die linke Seite. »Da läuft irgendwas Ungutes. Ich muss dringend hin.« Seine Stimme klang angespannt wie die Schnur eines Seiltänzers. Er hatte sich in eine innere Welt zurückgezogen, in der er sich sicher fühlte, während andere schreiend davongelaufen wären. Diese Welt bot ihm ein Ziel, eine Möglichkeit, anderen zu helfen, nachdem sich Rory als hoffnungsloser Fall entpuppt hatte. Im nachlassenden Licht wirkte sein Gesicht blass und gezeichnet von Schmerz.
Das Lenkrad fest im Griff, steuerte er in die Kurve. Rechts folgten die Bäume aufeinander wie die leeren Bilder am Ende einer Filmspule. Blinkend überquerte Seth die gelbe Mittellinie, um zur Abzweigung nach links zu gelangen.
Da tauchte wie aus dem Nichts fünfzig Meter vor ihnen ein schwerer schwarzer Pick-up auf.
»Seth!« Unwillkürlich drückte sich Rory nach hinten in den Sitz und stemmte den Fuß auf den Boden, als hätte sie ein eigenes Bremspedal.
Mit einem Ruck riss Seth das Steuer nach links, um dem entgegenkommenden Fahrzeug auszuweichen. Die Eukalyp tusbäume schossen vorbei. Dann war der schwarze Wagen da.
Der Aufprall war laut und brutal.
Der Pick-up rammte die Beifahrerseite von Seths Auto. Der Rahmen verbog sich, kreischend lief ein Sprung durch die Windschutzscheibe. Auf Rorys Seite zerbarst das Fenster. Die Motorhaube des schwarzen Pick-ups schob sich auf sie zu, zerdrückte die Seite von Seths Wagen. Rory merkte, wie sie nach vorn geschleudert wurde.
Unaufhaltsam rutschten sie zur Seite, als würden sie von einem Güterzug mitgerissen. In einer Welle aus Hitze und Lärm rückte der schwarze Pick-up heran und zermalmte alles, was sich ihm in den Weg stellte. Das Führerhaus von Seths Wagen wurde auf die halbe Größe zusammengestaucht.
Schlitternd kippten sie, bis der andere Wagen mit den Vorderreifen wieder den Boden berührte und Halt fand. Ineinander verkeilt schossen sie von der Fahrbahn und prallten mit einem hässlichen metallischen Krachen gegen einen Baum.
Rory glaubte zu schweben. Auf dem Rücken liegend, starrte sie durch seltsam verbogene Zweige aus Blech zum Himmel. Sie sah Sterne. Als sie blinzelte, spürte sie ein Stechen in den Augen. Laut und hilflos plärrte eine Hupe.
Dann verdrängte grelles, gelbes Licht die Sterne. Neben ihnen hatte ein Bus gestoppt. Seine Scheinwerfer strahlten ihr ins Gesicht. Langsam wurde ihr bewusst, dass sie auf dem Armaturenbrett von Seths Auto lag.
Und dass sie verletzt war.
Ihre Augen tränten, doch mit jedem Blinzeln wurde der Schmerz schlimmer. Sie hob die Hand und bemerkte das Blut daran. Als sie den Kopf drehte, knirschte Glas unter ihr.
»Rory.«
Sie lauschte in sich hinein.
»Rory, halt still.«
Beginnend bei den Füßen rollte eine Schmerzwelle durch ihren Körper.
»Rory, Liebling, ganz ruhig.«
Das war Seth. Dann hörte sie andere Stimmen. Ein Mann, zwei Männer, vielleicht aus dem schwarzen Pick-up oder aus dem Bus.
Wieder knirschte Glas. Hände rissen mit einem durchdringenden Ächzen die ganze Windschutzscheibe aus dem Rahmen. Ein Netz von Sprüngen lief über das Sicherheitsglas, doch es fiel nicht auseinander. Unter ihr schaukelte der Wagen.
Dann erschien Seth über ihr, der auf der Motorhaube kniete. »Rory, kannst du sprechen?«
Sie machte eine Bewegung und spürte das Stechen nun auch an den Armen.
»O Gott, halt still – du bist voller Glassplitter.« Seine Hand schwebte über ihrem Gesicht.
Eine andere Stimme: »Können wir helfen?«
»Rufen Sie einen Krankenwagen. Der Erste-Hilfe-Kasten ist hinten. Schnell.« Zusammengeduckt kletterte er auf der Motorhaube herum, um besser an sie heranzukommen. »Ganz ruhig.« Mit bebenden Fingern wischte er ihr Glas vom Gesicht.
Sie bemerkte, dass auch er blutete. Seine Stimme blutete. Nur der blauschwarze Himmel hatte jeden Hauch von Rot verloren.
36
Rory löste sich von der Wand des Wartungsschuppens. Drüben auf dem Baseballfeld bejubelten die Spieler einen Homerun. Sie steuerte auf Seths neuen Tundra zu, stieg ein und schnallte sich an. Seth setzte sich ans Steuer und vermied sorgfältig ihren Blick, als er den Motor anließ.
»Seth …«
»Später. Danach. Im Moment haben wir keine Zeit für lange Erklärungen.«
Sie witterte einen Abwehrmechanismus in seinen Worten, eine Ausrede. Trotzdem nickte sie. Später. Er fuhr aus dem
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