Die Zeugin: Thriller (German Edition)
weckte sie erneut. »Ms. Mackenzie, wir haben die Blutung gestoppt. Aber Sie haben viel Blut verloren.«
Sie zwang sich, zusammenhängende Worte zu sprechen. »Ich. Muss morgen raus. Juraexamen … am Dienstag.«
Schwebend kam er ins Bild. Blauer Kittel, blasse Arme. Das Gesicht verschwommen. »Mal sehen, wie lang Sie hierbleiben müssen.«
»Wo ist Seth?«, fragte sie. »Geht es ihm gut?«
»Wer ist Seth?«
Die Millionenfrage. »Seth Colder. Der Fahrer des Pick-ups.«
»Sie wurden nach dem Unfall als Einzige eingeliefert.« Er stockte. »Aurora.« Seine Stimme klang sanft. »Tut mir leid, aber das war noch nicht alles.«
Dann schilderte er ihr das Ausmaß ihrer Verletzungen. Langsam spürte sie, wie sich die Nacht auf sie herabsenkte. Sie würde zwei Wochen im Krankenhaus bleiben müssen und ihre Prüfung verpassen. Damit war auch die Stelle bei der Kanzlei in San Francisco verloren.
Benommen von den Medikamenten lag sie da und starrte stumm durchs Fenster. Petra kam öfter zu Besuch, brachte ihr Blumen und Alkoholisches und strich ihr mit den Fingerspitzen das Haar aus der Stirn. Sie hielt Rory die Hand, hörte ihr zu und warf gelegentlich ein »O Mann!« ein. Rorys Eltern verbrachten jede freie Minute bei ihr. Sam schlich sich herein, während sie schlief, und wenn Rory die Augen aufschlug, erblickte sie ihre Mom, die das Bettgitter umklammerte, als wollte sie auf einen fahrenden Zug aufspringen.
Sie schien zugleich glückselig und gequält. »Schlaf dich nur aus, Kleines«, waren ihre Worte. »Bald geht’s dir wieder besser.«
Erst nach Tagen brachte Rory den Mut für eine Frage auf: »Wo ist Seth?«
Sam bedachte sie mit einem kühlen Blick. »Nicht hier.«
»Wo ist er?«
»Er hat deinem Dad erzählt, dass du Schluss gemacht hast. Dass ihr euch für immer getrennt habt.«
»Dann war er also gar nicht im Krankenhaus?«
Sam schwieg.
Rory drehte sich zur Wand.
R ory strich Addie übers Haar.
»Geh wieder rüber zu Spongebob, Adalyn. Die Großen müssen sich unterhalten«, sagte Amber.
Rory hob Addie vom Tresen. Wie ein Affe schmiegte sich die Kleine an sie und schlang die Arme fest um ihren Hals. Sie roch nach Babypuder und Bananen. Rory setzte sie auf den Boden, und sie lief kichernd mit ihrer platschenden Wassertasse aus der Küche.
Ambers Miene wurde ernst. »Also, was willst du?«
»Ich möchte wissen, was los ist«, antwortete Rory.
In ihrer Jeanstasche vibrierte das Telefon. Eine Nachricht von Seth.
Noch bevor sie sie lesen konnte, hörte sie ein Auto in die Einfahrt biegen. Mit verschränkten Armen lehnte sich Amber an den Tresen. Kurz darauf öffnete sich die Eingangstür.
Im Gang stand Boone und machte ein verblüfftes Gesicht.
»Komm rein, Junge«, begrüßte ihn Amber. »Wir haben hier ein kleines Familientreffen.«
37
Aus Boone war ein großer, gut aussehender Mann geworden. Sein braunes Haar streifte den Kragen. Die Augen hatte er von seiner Mutter. Sein Hemd trug die Aufschrift AUTOVERWERTUNG RANSOM RIVER . Der dazu passende Abschleppwagen parkte in der Einfahrt.
Er machte einen drahtigen Eindruck. Vielleicht rührte das von der Anstrengung her, den unter der Oberfläche schwelen den Zorn mit Charme zu überspielen. Oder von seinen Wutausbrüchen. Rory wusste, dass er einmal wegen Diebstahl eine Bewährungsstrafe bekommen hatte, möglicherweise lag es also daran, dass er sich ständig zusammenreißen musste, um nicht wieder in sein altes Laster zu verfallen. Doch was er nicht haben konnte, zerstörte er. Vor allem, wenn er betrunken war. Angesichts seiner Vorliebe für Whiskey und Frittiertes fragte sie sich, ob seine Schlankheit etwas mit Kokain oder Crystal Meth zu tun hatte.
Und noch immer musterte er die Leute scheel von der Seite. Tänzelnd betrat er die Küche und nahm sich einen Apfel und ein Bier aus dem Kühlschrank. Dann lehnte er sich an den Tresen und polierte den Apfel am Hemd, während sein Blick zum Fenster hinter Rory wanderte. »Wundert mich, dass ich dich hier treffe, Cousinchen. Ich dachte, du willst mir aus dem Weg gehen.«
»Hatte einen ziemlich anstrengenden Tag. Was treibst du so?«
»War ein bisschen unten in der Stadt, um rauszufinden, was läuft.«
»Schön, dich zu sehen, Junge«, sagte Amber.
Er nahm einen Bissen vom Apfel und küsste sie auf die Wange. »Was will Aurora von dir? Möchte sie erfahren, wann Dad nach Hause kommt, damit sie ihn am Flughafen mit Spruchbändern und Konfetti begrüßen kann?«
Ambers Gesicht verdüsterte sich.
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