Die Zeugin: Thriller (German Edition)
schaute sich um.
»Rory, ich glaube, du bildest dir da irgendwas ein«, meinte Amber schließlich. »Keine Ahnung, wer dir solche Flausen in den Kopf setzt, aber es geht wirklich nur um die Anteilnahme einer Tante und ganz normale menschliche Neugier.«
Das Schmerzmittel blieb auf dem Tresen liegen. Rory fragte sich, ob Amber überhaupt eine Zulassung zum Betreiben einer Tagesstätte hatte oder ob sie einfach als Nachbarin auftrat, die gelegentlich als Babysitterin aushalf.
Rory schob die Blisterfolie in die Packung zurück und legte sie ins oberste Schrankfach. Dann stellte sie die lindgrüne Pillenbox daneben und drückte die Tür fest zu. »Ich kann mir schon vorstellen, was los ist«, erklärte sie. »Und da bin ich auch nicht die Einzige.«
Ambers Gesicht war rot angelaufen. »Ich bin krank. Ich habe chronische Schmerzen. Deswegen kann ich keine normale Arbeit machen.«
»Das tut mir leid.«
»Du hast es doch immer leicht gehabt, du Schlaumeierin. Aber nicht alle kriegen ihr Leben auf dem Silbertablett serviert.« Amber hob die Hände. »Das hab ich davon, dass ich immer versucht habe, meinen Kindern ein Dach über dem Kopf zu bieten und Essen auf den Tisch zu bringen. Weißt du überhaupt, was das bedeutet?«
Rory dachte an die klapprige Hütte in Simbabwe, an die kleine Grace und das Brennholz, das ihre Mutter sammelte, ehe Männer mit Brecheisen die Tür eintraten, um den Großvater zu holen.
Auch an Lee musste Rory denken. Riss’ echte Mutter war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, nachdem sie zu viel Southern Comfort getrunken hatte. Riss war damals sechs Monate alt. Lee hätte die Fesseln der Verantwortung abwerfen können, doch er ließ Riss nicht im Stich. Einmal hatte Amber gesagt: Das war ein Paketangebot. Ein umwerfender Mann und seine süße kleine Tochter. Wie hätte ich da widerstehen können? Ihr ganzes Leben lang hatte Rory gegen jeden Widerstand an der Vorstellung festgehalten, dass Lee ein liebevoller Vater war. Er hatte seiner Tochter ein Zuhause mit einer neuen Mutter und einem Bruder gegeben. Er hatte eine Familie für sie gegründet.
Doch hier in der düsteren Küche zeigte die Wahrheit ihr hässliches Gesicht. Lee hatte eine Familie gegründet und sie dann verlassen, vielleicht sogar in einem Fluchtauto.
Aus dem Gang drang eine leise Stimme. »Grandma Amber?«
In der Küchentür stand die Kleine mit den schwer zu bändigenden kakaobraunen Locken. Sie war barfuß und wippte auf den Zehen. Auf ihrem T-Shirt war eine Hummel abgebildet.
»Was ist, Addie?«, fragte Amber.
»Durst.« Das Mädchen war ungefähr eineinhalb, vielleicht ein wenig älter. Ihre blauen Augen strahlten neugierig und furchtlos.
»Grandma Amber unterhält sich gerade, Schatz.«
»Bitte.«
Rory schaltete sich ein. »Ich bringe ihr was.«
Amber winkte unbestimmt zu den Tetrapaks. »Die nicht. Gib ihr Wasser in einer Lerntasse, sonst wollen die anderen auch gleich was zu trinken, und dann muss ich eine halbe Stunde lang Windeln wechseln.«
Rory fand eine Lerntasse in dem Wandschrank mit dem Oxycontin.
Die kleine Addie lief ihr nach. »Addie machen.«
Amber ermahnte das Kind: »Nein, Adalyn.«
»Schon gut«, sagte Rory.
Sie hob die Kleine, die fast nichts wog, über die Spüle. Mit konzentriertem Blick wandte sich Addie dem Wasser zu, das aus dem Hahn floss. Rory drückte ihr die Plastiktasse in die Hände, und Addie streckte sie ernst und wackelig unter den Wasserstrahl, bis sie fast randvoll war.
»Toll gemacht«, lobte Rory. Sie setzte das Mädchen auf den Tresen.
Sorgfältig umklammerte Addie die Tasse und beobachtete das Wasser, als könnte es jederzeit herausspringen. Rory hielt die Tasse kurz fest, um den Deckel aufzuschrauben. »So, fertig.«
Addie lächelte. Ein Lächeln des Staunens und der Entdeckerfreude, das Rory einen Stich versetzte. Kurz streifte sie der Gedanke, dass sie vielleicht auch so ein Kind hätte haben können. Wenn sie und Seth zusammengeblieben wären. Wenn sich alles zum Guten gefügt hätte. Wenn, wenn, wenn.
Du hast es doch immer leicht gehabt, du Schlaumeierin.
N ach dem Unfall, nach den Sanitätern und der Polizei, nach den Scheinwerfern und dem Rettungswagen, nach der Notaufnahme und der Operation, kam Rory irgendwann zu sich. Ihr war schwindlig und übel. Mühsam öffnete sie die Augen und bemerkte, dass ihr Bein von den Zehen bis zum Schenkel in einem blauen Fiberglasgehäuse lag. Sie schloss die Lider wieder.
Die volle Stimme des Chirurgen an ihrem Ohr
Weitere Kostenlose Bücher