Die Zeugin
vertrauenerwekkend klang, aber sie wollte keinen Streit vom Zaun brechen. Sein liebevoller Blick erinnerte sie an ihre Hochzeit, und ihr wurde warm ums Herz. Als sie zum Bittgebet aufstanden, hakte sie ihren Arm bei ihm ein.
Nachdem sie das Singen, die Mitteilungen aus der Gemeinde und das Opfergebet hinter sich gebracht hatten, setzte sich die Gemeinde zur Predigt. Kendall hatte Matt gebeten, den Gottesdienst heute schwänzen zu dürfen, und nicht nur, weil inzwischen der ganze Ort von dem gestrigen Vorfall wuÃte. Die Burnwoods waren seit Jahren Mitglieder dieser unabhängigen protestantischen Kirche, doch sie nahm nur widerwillig am Gottesdienst teil, denn der Prediger war ihr zutiefst unsympathisch.
Brother Bob Whitaker war ein passabler Hirte, ein einigermaÃen fürsorglicher Seelsorger für seine groÃe Gemeinde â bis er auf die Kanzel stieg. Dort verwandelte er sich in einen eifernden, wütenden Verkünder von Höllenqualen und Fegefeuer. Doch nicht mal das störte Kendall übermäÃig. Durch die vielen Fernsehprediger war die Ãffentlichkeit gegen Brandreden wider die Sünde abgestumpft.
Was sie wirklich störte, war der ständige Verweis des Priesters
auf das unerbittliche Gericht Gottes. Er zitierte so oft »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, daà sie sich schon fragte, ob das die einzige Bibelstelle war, die er auswendig konnte. Von Gnade oder Vergebung sprach er nie; dafür um so öfter über Betrafung und Vergeltung. Sein Gott war ein blutdürstiger Rächer, kein liebevoller, vergebender Schöpfer.
Auch wenn sie auf Matts Drängen schlieÃlich doch mitgekommen war, konnte niemand sie zum Zuhören zwingen. Darum blendete sie Bruder Bob aus ihren Gedanken aus, sobald er zu seiner Hetzrede wider die Missetaten angesetzt hatte, und konzentrierte sich auf andere Dinge.
Sie war gerade dabei, im Geiste die nächste Woche zu planen, als ihr Blick sich zufällig mit dem einer Frau traf, die eine Reihe hinter ihr auf der anderen Seite des Mittelganges saÃ. Sie sah einfach atemberaubend aus. Kendall nahm an, daà der Mann neben ihr der Ehemann war, aber er â nein, jeder â muÃte neben ihr verblassen.
Es handelte sich nicht um eine Schönheit im klassischen Sinn, aber sie zog unwillkürlich alle Blicke auf sich. Ihr auf dem Kopf zusammengefaÃtes kastanienbraunes Haar fiel in weichen Wellen über die Schultern. Die groÃen Augen, Nase und Mund fügten sich harmonisch zu einem provozierenden, leicht schmollenden Gesicht zusammen.
Doch Kendall wurde weniger von ihrem faszinierenden ÃuÃeren als vielmehr von dem glühenden Blick gebannt, mit dem die Frau sie musterte. Kendall muÃte den Kopf schräg zur Seite drehen, um sie sehen zu können. Sie hatte fast das Gefühl, als hätte sie die Frau nicht zufällig erblickt, sondern wäre von der magnetischen Kraft ihres haÃerfüllten Blickes angezogen worden.
Matt stupste sie. »Was schaust du denn?«
Hastig drehte sie sich wieder nach vorn. »Ach, nichts.«
Er faÃte ihre Hand und lieà sie bis zum Ende der Predigt nicht mehr los. Kendall war versucht, sich umzudrehen und nachzusehen, ob die Frau sie immer noch anstarrte, aber aus einem unbestimmten Grund fürchtete sie sich davor, sich umzublikken.
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Als sie nach dem Segen durch den Mittelgang zum Ausgang wanderten, fiel sie Kendall wieder auf. »Matt, wer ist die Frau?« Kendall nickte in ihre Richtung. »Die in dem grünen Kleid.«
Bevor er ihr antworten konnte, wurde er abgelenkt. »Hey, Matt.« Der Vorsitzende des Schulverwaltungsrates gesellte sich zu ihnen und schüttelte Matt die Hand. Dann sah er Kendall an und zwinkerte ihr übertrieben zu. »Und, gabâs heute Schinken zum Frühstück?« Er lachte scheppernd. »Hättet ihr Lust, diese Woche irgendwann zum Abendessen vorbeizukommen? Wir könnten zusammen ein paar Koteletts grillen.«
Matt und Gibb hatten ihr prophezeit, daà man sie gnadenlos und möglicherweise jahrelang damit aufziehen würde, daà sie beim Schweineschlachten in Ohnmacht gefallen war. So ein Vorfall konnte einen das Leben hindurch verfolgen.
DrauÃen hatte sich mindestens die Hälfte der Gemeinde zu einem Schwätzchen versammelt. Kendall fiel einer Frau in die Hände, deren Tochter mit dem Gedanken spielte, Juristin zu werden. Die beiden baten sie um ihre Meinung, auf welche
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