Die Zeugin
ans Telefon gegangen. Er hatte kein Wort gesagt, doch bei jedem amtlichen Wort, das durch die Leitung drang, war sein Entsetzen â und seine Wut â gröÃer geworden. »Können wir zu ihm?«
»Noch nicht«, beschied man ihn. »Wir melden uns wieder bei Ihnen.«
Nachdem er aufgelegt hatte, hatte er Luther nach drauÃen gewinkt und ihm erzählt, was ihrem kleinen Bruder zugestoÃen war. Luther hatte eine Tirade lästerlichster Flüche ausgestoÃen, eine Hacke genommen und die Klinge tief in die AuÃenverkleidung ihres Hauses getrieben, um schlieÃlich jenen Satz zu sagen, vor dem sich Henry am allermeisten fürchtete: »Wir müssen es Mama erzählen.«
Luther hatte »wir« gesagt, aber Henry wuÃte, daà er »du« meinte.
Die Zeit war zu knapp, als daà sie eine ihrer Schwestern um Hilfe bitten konnten. Sie wohnten zu weit weg. AuÃerdem würden die bloà anfangen zu flennen und einen Riesenzirkus veranstalten, womit niemandem geholfen war.
Als dem Ãltesten, dem Mann in der Familie, fiel ihm die Verantwortung zu. So waren er und Luther zurück ins Haus geschlurft, wo er Mama die schlechte Neuigkeit überbracht hatte.
Doch sie verhielt sich ganz anders, als sie erwartet hatten. Sie
hatte nicht getobt, geschrien oder gezetert, oder mit Gegenständen um sich geschmissen. Nicht mal zu trinken hatte sie angefangen, nicht einen Schluck. Statt dessen war sie in ihren Schaukelstuhl gefallen und hatte zum Fenster rausgestarrt, und da saà sie immer noch, fast vierundzwanzig Stunden später.
Es war, als wäre sie zu Stein erstarrt, und allmählich ging das Henry an die Nieren. Immer noch besser, sie tobte und zeterte, als daà sie so dasaà und höchstens mal die Augen bewegte, wenn sie blinzeln muÃte. Er wünschte fast, sie würde einen ihrer Anfälle kriegen. Mit denen hatte er wenigstens Erfahrung.
Vor einer Stunde hatte man sie wieder angerufen und ihnen mitgeteilt, daà sie Billy Joe um fünf Uhr besuchen könnten. Bis dahin hätten sie ihn soweit, hatte es geheiÃen. Jetzt saà Henry in der Patsche. Er muÃte zu seinem kleinen Bruder, aber konnte Mama nicht allein lassen. Und Luther weigerte sich, bei ihr zu bleiben.
»Ganz allein?« Luthers Stimme war vor Angst ganz dünn und hoch gewesen, als Henry ihm vorgeschlagen hatte, gemeinsam mit Mama zu Hause zu warten. »ScheiÃe, nein! Ich kriegâ eine Gänsehaut, wenn sie so dasitzt und Löcher in die Luft starrt. Ich glaubâ, sie ist nicht ganz richtig im Kopf, ehrlich. Sie ist einfach verrückt geworden. Jedenfalls bleibâ ich nicht allein bei ihr.«
Henry hatte das Problem immer noch nicht gelöst, und langsam wurde die Zeit knapp. Wenn er nicht zum vereinbarten Termin hinkam, würde er Billy Joe vielleicht nicht mehr zu sehen bekommen, bevor ...
»Henry!«
Ihm blieb vor Schreck fast das Herz stehen. »Was ist denn, Mama?«
Er wäre beinahe über seine eigenen FüÃe gestolpert, während er quer durchs Zimmer zu ihrem Schaukelstuhl stürzte.
Als er vor ihr stand, war ihr Blick auf ihn gerichtet, und er erkannte sofort, daà Luther sich geirrt hatte. Sie war völlig bei Sinnen.
»Dein Daddy wird sich im Grab rumdrehen, wenn wir sie damit durchkommen lassen«, sagte sie.
»Ganz genau.« Luther kniete, offensichtlich erleichtert, neben ihrem Stuhl nieder. »Nein, Sir. Auf gar keinen Fall. Damit lassen wir sie nicht durch.«
Sie holte aus und versetzte ihm eine Ohrfeige. »Ich habâ nicht den Verstand verloren. Wehe, ich höre dich noch mal so was sagen!«
Tränen standen in Luthers farblosen Augen. Er massierte sich das Ohr, das nächstes Jahr um die gleiche Zeit wahrscheinlich immer noch klingeln würde. »Nein, Madam. Ich meine, ja, Madam.«
»Was sollen wir tun, Madam?« fragte Henry.
Als sie ihren Plan darlegte, wurde ihm klar, daà sie die ganze Zeit, während sie so merkwürdig aus dem Fenster starrte, über nichts anderes nachgedacht hatte.
13. Kapitel
»Der Kaffee riecht köstlich.«
Kendall war so in ihre Gedanken versunken, daà sie nicht gehört hatte, wie er in die Küche trat. Seine Stimme lieà sie herumfahren. Er stand in der Tür, auf Krücken und angezogen, aber unrasiert. Er sah zerknittert, aber ausgeruht aus. Sein Gesicht hatte wieder etwas Farbe angenommen, und die dunklen Ringe unter seinen
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