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Die Zeugin

Die Zeugin

Titel: Die Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brown Sandra
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ans Telefon gegangen. Er hatte kein Wort gesagt, doch bei jedem amtlichen Wort, das durch die Leitung drang, war sein Entsetzen – und seine Wut – größer geworden. »Können wir zu ihm?«
    Â»Noch nicht«, beschied man ihn. »Wir melden uns wieder bei Ihnen.«
    Nachdem er aufgelegt hatte, hatte er Luther nach draußen gewinkt und ihm erzählt, was ihrem kleinen Bruder zugestoßen war. Luther hatte eine Tirade lästerlichster Flüche ausgestoßen, eine Hacke genommen und die Klinge tief in die Außenverkleidung ihres Hauses getrieben, um schließlich jenen Satz zu sagen, vor dem sich Henry am allermeisten fürchtete: »Wir müssen es Mama erzählen.«
    Luther hatte »wir« gesagt, aber Henry wußte, daß er »du« meinte.
    Die Zeit war zu knapp, als daß sie eine ihrer Schwestern um Hilfe bitten konnten. Sie wohnten zu weit weg. Außerdem würden die bloß anfangen zu flennen und einen Riesenzirkus veranstalten, womit niemandem geholfen war.
    Als dem Ältesten, dem Mann in der Familie, fiel ihm die Verantwortung zu. So waren er und Luther zurück ins Haus geschlurft, wo er Mama die schlechte Neuigkeit überbracht hatte.
    Doch sie verhielt sich ganz anders, als sie erwartet hatten. Sie
hatte nicht getobt, geschrien oder gezetert, oder mit Gegenständen um sich geschmissen. Nicht mal zu trinken hatte sie angefangen, nicht einen Schluck. Statt dessen war sie in ihren Schaukelstuhl gefallen und hatte zum Fenster rausgestarrt, und da saß sie immer noch, fast vierundzwanzig Stunden später.
    Es war, als wäre sie zu Stein erstarrt, und allmählich ging das Henry an die Nieren. Immer noch besser, sie tobte und zeterte, als daß sie so dasaß und höchstens mal die Augen bewegte, wenn sie blinzeln mußte. Er wünschte fast, sie würde einen ihrer Anfälle kriegen. Mit denen hatte er wenigstens Erfahrung.
    Vor einer Stunde hatte man sie wieder angerufen und ihnen mitgeteilt, daß sie Billy Joe um fünf Uhr besuchen könnten. Bis dahin hätten sie ihn soweit, hatte es geheißen. Jetzt saß Henry in der Patsche. Er mußte zu seinem kleinen Bruder, aber konnte Mama nicht allein lassen. Und Luther weigerte sich, bei ihr zu bleiben.
    Â»Ganz allein?« Luthers Stimme war vor Angst ganz dünn und hoch gewesen, als Henry ihm vorgeschlagen hatte, gemeinsam mit Mama zu Hause zu warten. »Scheiße, nein! Ich krieg’ eine Gänsehaut, wenn sie so dasitzt und Löcher in die Luft starrt. Ich glaub’, sie ist nicht ganz richtig im Kopf, ehrlich. Sie ist einfach verrückt geworden. Jedenfalls bleib’ ich nicht allein bei ihr.«
    Henry hatte das Problem immer noch nicht gelöst, und langsam wurde die Zeit knapp. Wenn er nicht zum vereinbarten Termin hinkam, würde er Billy Joe vielleicht nicht mehr zu sehen bekommen, bevor ...
    Â»Henry!«
    Ihm blieb vor Schreck fast das Herz stehen. »Was ist denn, Mama?«
    Er wäre beinahe über seine eigenen Füße gestolpert, während er quer durchs Zimmer zu ihrem Schaukelstuhl stürzte.
Als er vor ihr stand, war ihr Blick auf ihn gerichtet, und er erkannte sofort, daß Luther sich geirrt hatte. Sie war völlig bei Sinnen.
    Â»Dein Daddy wird sich im Grab rumdrehen, wenn wir sie damit durchkommen lassen«, sagte sie.
    Â»Ganz genau.« Luther kniete, offensichtlich erleichtert, neben ihrem Stuhl nieder. »Nein, Sir. Auf gar keinen Fall. Damit lassen wir sie nicht durch.«
    Sie holte aus und versetzte ihm eine Ohrfeige. »Ich hab’ nicht den Verstand verloren. Wehe, ich höre dich noch mal so was sagen!«
    Tränen standen in Luthers farblosen Augen. Er massierte sich das Ohr, das nächstes Jahr um die gleiche Zeit wahrscheinlich immer noch klingeln würde. »Nein, Madam. Ich meine, ja, Madam.«
    Â»Was sollen wir tun, Madam?« fragte Henry.
    Als sie ihren Plan darlegte, wurde ihm klar, daß sie die ganze Zeit, während sie so merkwürdig aus dem Fenster starrte, über nichts anderes nachgedacht hatte.

13. Kapitel
    Â»Der Kaffee riecht köstlich.«
    Kendall war so in ihre Gedanken versunken, daß sie nicht gehört hatte, wie er in die Küche trat. Seine Stimme ließ sie herumfahren. Er stand in der Tür, auf Krücken und angezogen, aber unrasiert. Er sah zerknittert, aber ausgeruht aus. Sein Gesicht hatte wieder etwas Farbe angenommen, und die dunklen Ringe unter seinen

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