Die Zeugin
Augen waren blasser geworden.
»Guten Morgen.« Nervös wischte sie sich die Hände an ihren Shorts ab. »Ich wollte gerade nach dir sehen. Wie geht es?«
»Besser. Aber keinesfalls gut.«
»Hoffentlich bist du nicht von Kevin geweckt worden?«
»Nein. Er schläft immer noch in diesem merkwürdigen Käfig.«
»Dem Ställchen. Setz dich. Ich machâ dir Frühstück.« Sie schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein. »Was möchtest du? Pfannkuchen? Eier? Toast mit Ei? Bloà Waffeln kannst du keine haben.«
»Was spricht gegen Waffeln?«
»Wir haben kein Waffeleisen.«
»Ach so. Wo kommt das Essen her? Haben es uns die Heinzelmännchen heute nacht gebracht?«
»Ich war in der Früh einkaufen.«
Das schien ihn zu überraschen. »Ich habe nicht gehört, wie du weggefahren bist.«
»Das solltest du auch nicht.«
»Wie weit ist es zum nächsten Ort?«
»Nicht weit.«
»Hast du zufällig eine Zeitung mitgebracht?«
»Sie liegt auf dem Tisch neben dem Sofa im Wohnzimmer.«
»Danke.«
Sie machte ihm die gewünschten Rühreier mit Speck. Er leerte seinen Teller in Windeseile und lieà nur eine Scheibe Speck übrig. »Willst du?«
»Du weiÃt doch, ich esse kein Schweinefleisch.«
»Du bleibst bei dieser Geschichte.«
»Es ist keine Geschichte.«
»Ich glaube schon. Ich weià bloà noch nicht, was für eine. Warum hast du die Gelegenheit heute morgen nicht genutzt und bist abgehauen?«
Warum eigentlich nicht? Die Frage beschäftigte sie schon seit ihrer Rückkehr. Sie hatte vorgehabt, ein für allemal zu verschwinden, nachdem sie sich im Morgengrauen aus dem Haus geschlichen hatte. Aber je weiter sie fuhr, desto schlechter wurde ihr Gewissen.
Ihr wollte nicht aus dem Kopf, wie oft er in der Nacht gestöhnt hatte. Er konnte kaum gehen, und seine Gehirnerschütterung war immer noch nicht überstanden. Sie würde nicht mal ein Tier im Stich lassen, wenn es so schwer verletzt war wie er. Sie konnte ihn jetzt genausowenig allein zurücklassen wie damals an der Unfallstelle.
Das Verantwortungsgefühl, das sie für ihn empfand, war fatal. Und gefährlich, weil es sie daran hinderte, das zu tun, was sie tun müÃte. Aber sie wuÃte, daà sie sich erst davon lösen konnte, wenn sich sein Zustand gebessert hatte und er allein zurechtkam.
AuÃerdem war ihr eingefallen, daà sie sich hier vielleicht in gröÃerer Sicherheit befand als unterwegs. Auf der morgendlichen Fahrt in die Stadt hatte sie sich entblöÃt, verwundbar gefühlt. Wohin sollte sie überhaupt fliehen? Sie hatte kein bestimmtes
Ziel vor Augen â wollte einfach flüchten. Bis hierher war ihr das gelungen. Solange er dieses Dasein nicht wirklich gefährdete, warum sollte sie da ihr Glück auf die Probe stellen, indem sie verschwand, bevor es unbedingt notwendig war?
Natürlich kam ihr auch der Gedanke, daà diese Argumente nur vorgeschoben sein könnten, weil sie dieses Haus liebte. Hier wollte sie bleiben, denn hier fühlte sie sich daheim.
»Ich verspreche dir, daà ich dich in diesem Zustand nicht allein lasse«, sagte sie.
»Was heiÃt, daà du mich verlassen wirst, sobald sich mein Zustand bessert.«
»Leg mir keine Worte in den Mund.«
»Du drückst dich so rätselhaft aus, daà ich versuchen muÃ, mir irgendeinen Sinn zurechtzureimen.«
»Der Sinn wird sich von selbst ergeben, wenn dein Gehirn dazu bereit ist. Der Arzt wollte nicht ausschlieÃen, daà du dein Gedächtnis unbewuÃt blockierst. Du willst dich einfach nicht erinnern.«
Er faltete die Hände um seine Kaffeetasse und sah ihr tief in die Augen. »Hat er recht, Kendall?«
Zum ersten Mal nannte er sie beim Namen. Ihn aus seinem Mund zu hören, irritierte sie; sie verlor einen Moment den Faden. »Ob er recht hat?« wiederholte sie. »Das kannst nur du selbst beantworten.«
»Wenn ich mich an nichts erinnern kann, woher soll ich dann wissen, was ich vergessen möchte?« Er verwünschte seinen Zustand und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Doch hatte er die Nähte vergessen, und die ungestüme Bewegung zerrte an der Narbe. »Autsch!«
»Vorsicht! Laà mich mal sehen.« Sie stellte sich neben ihn und schob seine Hände beiseite. Langsam zog sie das Pflaster ab und besah sich die Wunde.
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