Die Zeugin
»Sieht nicht nach einer Infektion
aus. Die Nähte sind intakt. Ich kann keinen Schaden feststellen.«
»Es juckt«, beschwerte er sich gereizt.
»Das bedeutet, daà es heilt.«
»Wahrscheinlich.« Sie stand immer noch dicht neben ihm. Er sah zu ihr auf. »Woher hast du das Geld zum Einkaufen?«
»Ich habe dir doch gesagt, ich habe es ...«
»Verdient. Ich weiÃ. Als was?«
Sie zögerte, wägte ab, ob sie ihm antworten sollte oder nicht, und gelangte schlieÃlich zu dem SchluÃ, daà er sowieso keine Ruhe geben würde, bis sie es ihm sagte. »Ich bin Anwältin.«
Er lachte kurz und bellend. »Deine Lügen werden immer ausgefeilter.«
»Pflichtverteidigerin.« Er sah sie an, als würde er ihr immer noch nicht glauben. »Das ist die Wahrheit«, bekräftigte sie.
»Erzähl mir mehr.«
»Was willst du denn wissen?«
»Warst du gut? Ich wette, du warst gut. Du lügst so gut.«
Sie lächelte. »Das hat Ricki Sue auch immer behauptet!«
»Wer ist das?«
»Meine beste und einzige Freundin.«
»Hmm.« Er kaute gedankenverloren auf der letzten Scheibe Speck herum. »Wie gut warst du als Verteidigerin?«
Sie gewann ein paar Sekunden, indem sie sich eine Tasse Kaffee einschenkte, bevor sie sich auf dem Stuhl ihm gegenüber niederlieÃ. »Ich war nicht schlecht. Mehr als mittelmäÃig. Zumindest für meinen Fleià hätte ich eine Eins verdient.
Ich wollte gut sein«, sie erwärmte sich für ihr Thema. »Die Leute, die mich einstellten, glaubten, ein groÃes Risiko einzugehen, indem sie die Stelle an eine Frau vergaben. Ich muÃte mich also bewähren. Insgesamt habe ich mich einigermaÃen durchgesetzt, aber natürlich nicht alle Fälle gewonnen.«
Er lehnte sich aufmerksam zuhörend zurück, und sie fuhr fort: »Eine Niederlage war besonders bitter. Anfangs sah es ganz nach einem Routinefall aus, aber es endete ... grauenvoll.«
»Was war geschehen?«
»Ich riet einem Sechzehnjährigen, der wegen Diebstahls vor Gericht stand, sich schuldig zu bekennen und auf die Gnade des Gerichts zu vertrauen. Da es sein erstes Vergehen war, erwartete ich, daà der Richter Nachsicht üben würde. Statt dessen benutzte er diesen Jungen, um mich zu demütigen.« Monoton erzählte sie ihm, was damals im Gerichtssaal vorgefallen war.
»Die Sache hatte offenbar ein Nachspiel?«
»Während der Fahrt nach Columbia kam es zu einem schrecklichen Zwischenfall. Er war in Handschellen, du verstehst, und irgendwie müssen sich diese Handschellen bei einer Rastpause verfangen haben, so daà sein Arm ...« Sie hielt inne und schluckte mühsam. »Sein rechter Arm wurde ihm aus der Schulter gerissen, im wahrsten Sinn des Wortes, so als hätte man ihn gevierteilt. Er bekam einen Schock und wäre fast verblutet. Man konnte ihn noch retten, aber er wird sich nie wieder ganz erholen, weder physisch noch psychisch.«
Als Kendall an jenem Sonntagmorgen von dem Unfall erfahren hatte, wurde sie von Entsetzen, Schuldgefühlen und Zorn gepackt. Die Geschichte setzte ihr immer noch zu. Billy Joe war ganz bestimmt kein Engel. Aber nach dem Unfall war es so gut wie ausgeschlossen, daà er sich jemals zu einem gesetzestreuen, pflichtbewuÃten Mitglied der Gesellschaft entwickeln konnte. Er würde, verkrüppelt und verbittert, der ganzen Welt die Schuld an seinem Elend geben. Und die Hauptschuld würde er seiner Verteidigerin anlasten.
Das tat jedenfalls seine Familie.
»Eine echte Katastrophe«, bemerkte er. Er hatte ihr schweigend gegenübergesessen und ihr Zeit gelassen, nochmals das furchtbare Geständnis und seine Konsequenzen zu überdenken.
War es klug, dieses Gespräch weiterzuführen? Erzählte sie zuviel? Aber es tat so gut, das auszusprechen, was ihr seit Monaten das Herz beschwerte.
»Ich habe meine eigene Theorie hinsichtlich des Unfalls«, sagte sie.
»Und die wäre?«
»Daà es überhaupt kein Unfall war.«
»Interessant.« Er beugte sich vor. »Hast du das nachprüfen lassen?«
»Damals kam ich gar nicht auf die Idee.«
»Hast du mit dem Jungen gesprochen?«
»Das habe ich versucht. Ich wollte ihn im Krankenhaus besuchen, aber man sagte mir, er dürfe noch keinen Besuch empfangen.«
»Hat dich das nicht miÃtrauisch werden lassen?«
»Es
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