Die Zeugin
er irgendwann die Oberhand gewinnen und von da an über ihr Geschick bestimmen.
Er gab sich nicht mehr mit ihren Ausflüchten zufrieden, in denen gerade genug Wahrheit steckte, um sie plausibel klingen zu lassen. Gestern hatte sie seine Fragen nach seiner Abneigung gegen Kevin pariert, indem sie diese Reaktion auf eine Nebenwirkung der Amnesie geschoben hatte. Aber es war deutlich zu merken, daà sie mit dieser fadenscheinigen Erklärung sein MiÃtrauen nur vermehrt, nicht vermindert hatte.
Sie wuÃte, daà ihre Zeit knapp wurde, denn er lernte sie immer besser einzuschätzen. Sie war jetzt länger mit ihm zusammen, als es das Pflichtgefühl erforderte. Wenn er gesund genug war, eine Rebellion zu inszenieren, dann konnte er inzwischen auch allein zurechtkommen, bis Hilfe eintraf.
Zwei Wochen lang hatte sie ihre Furcht, er könnte sein Gedächtnis wiederfinden, gegen die Angst abgewogen, ihr sicheres Versteck zu verlassen. Zwar bot ihr das Haus notdürftig Schutz, aber auf der StraÃe, wo die Polizei nach ihr suchte, war sie in akuter Gefahr. Bestimmt hatte sich inzwischen der Aufruhr um ihr Verschwinden in Stephensville wieder gelegt. Wahrscheinlich war das Interesse ihrer Verfolger erlahmt oder sogar erloschen: alles in allem der ideale Zeitpunkt, sich davonzumachen.
Jetzt hatte er ihren Plan durchkreuzt.
Andererseits war es vielleicht besser, daà er darauf bestand, heute mit ihr in den Ort zu fahren. Er rechnete damit, daà sie abhauen und nicht zurückkommen würde, aber er würde nicht damit rechnen, daà sie ihm entwischte, seiner Begleitung zum Trotz.
Auf der Fahrt in den Ort konnte sie sich überlegen, wie sie ausreiÃen würde.
»Wenn du mitkommen willst, meinetwegen.« Sie setzte ein Lächeln auf. »Ich freue mich, wenn du mir Gesellschaft leistest.«
Ihr Passagier erwies sich als kein besonders anregender Beifahrer. Während der ersten zehn Minuten sprach er kein Wort, weil er seine Augen wandern lieÃ, um sich die Wege einzuprägen und Orientierungspunkte festzuhalten. Ihretwegen hätte er sich den Weg auch aufmalen können. Wenn heute morgen alles klappte, dann würde sein Intensivkurs in Navigation keine Folgen für sie haben.
SchlieÃlich bemerkte er: »Du kennst dich hier aus.«
»Kein Wunder. Hier hat mir meine GroÃmutter Fahrunterricht erteilt.«
»Du redest oft von ihr, hast sie wirklich geliebt, nicht wahr?«
»Sehr sogar.«
»Wie war sie? Wieso hast du so an ihr gehangen?«
Kendall merkte, daà sie unmöglich in Worte fassen konnte, was sie für Elvie Hancock empfunden hatte, dennoch gab sie sich Mühe, auch wenn die Unzulänglichkeit der Sprache dazwischenstand.
»GroÃmutter war erfinderisch und lustig; ständig dachte sie sich irgendwelche Unternehmungen aus. Ich habe sie nicht nur geliebt, ich habe sie auch als Mensch bewundert. Sie war ungewöhnlich tolerant und hat andere mit all ihren Fehlern akzeptiert. Mein ganzes Leben lang gab sie mir das Gefühl, jemand Besonderer zu sein. Selbst wenn ich was angestellt hatte und bestraft werden muÃte, spürte ich ganz deutlich, daà sie mich liebte. Deshalb vermisse ich sie so!«
Inzwischen waren sie am Ortsrand angekommen, Kendall bog auf den Parkplatz eines Supermarktes ein. Er wartete, bis sie den Motor abgestellt hatte, bevor er fragte: »Hast du sie mehr geliebt als mich?«
Kendall war entgeistert. »Was für eine Frage! Das sind doch ganz verschiedene Beziehungen. Man kann sie nicht miteinander vergleichen.«
»Liebe ist Liebe, oder etwa nicht?«
»Keineswegs. Es kommt immer ganz darauf an.«
»Worauf?«
»Auf die beiden Liebenden und wie sie miteinander verknüpft sind.«
»Habe ich dich geliebt? Nein, du brauchst nicht zu antworten«, kam er ihr zuvor. »Du würdest sowieso nur lügen.« Er starrte einen Moment gedankenverloren durch die Windschutzscheibe; dann meinte er nachdenklich: »Ich kann mich nicht erinnern, jemanden geliebt zu haben. Wenn es der Fall gewesen wäre, dann sollte ich mich eigentlich daran erinnern, findest du nicht?«
Darauf fixierte er sie wieder, und Kendall bemerkte die Angst in seinen Augen. Was ging ihm wohl durch den Kopf? Unter anderen Umständen ...
Aber die Umstände waren nun einmal so, deshalb grenzte es an Selbstquälerei, über seine geistige Gesundheit zu spekulieren.
Sie stieg schnell aus und holte
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