Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zitadelle des Autarchen

Die Zitadelle des Autarchen

Titel: Die Zitadelle des Autarchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
auch zuviel Stoff und zu wenig Holz, Leder, Stein und Bein verwendet, was dem Ganzen meinem Empfinden nach einen weichlichen und zugleich unbequemen Charakter verlieh.
    Freilich war es ausgeschlossen, daß ich einen anderen Flügel als jenen, der seit alters für die Autarchen bereitstand, bezogen hätte; ausgeschlossen war auch, ihn einigermaßen umzumöblieren, ohne das Mißfallen meiner Vorgänger zu erregen. Und wenn schon die Einrichtung mehr den Geist als den Körper ansprach, so erst recht die Schätze, welche selbige Vorgänger zurückgelassen hatten: Da fand ich Dokumente über Dinge, die nun längst in Vergessenheit geraten und nicht immer entschlüsselbar waren; rätselhafte Geräte mit genialer Mechanik; einen Mikrokosmos, der durch die bloße Wärme meiner Hand zum Leben erwachte und dessen winzige Bewohner vor meinen Augen größer und immer menschenähnlicher wurden; ein Laboratorium mit der sagenumwobenen »Smaragdbank« und viele Dinge mehr, wovon mich am meisten eine Mandragora in Alkohol bezauberte.
    Der Destillierkolben, in dem sie schwamm, war etwa sieben Spannen hoch und halb so breit; der Homunkulus selbst war nur zwei Spannen groß. Als ich ans Glas klopfte, richtete er trübe, perlartige Augen auf mich, die noch viel blinder als diejenigen von Meister Palaemon wirkten. Ich vernahm keinen Laut, als seine Lippen sich bewegten, wußte aber dennoch unverzüglich, welche Silben sie formten – und glaubte unerklärlicherweise mit einemmal, die helle Flüssigkeit, welche die Mandragora bedeckte, wäre mein eigener blutvermengter Urin geworden.
    »Weshalb hast du mich, Autarch, aus der Betrachtung deiner Welt gerissen?«
    Ich fragte: »Ist sie wirklich mein? Ich weiß, daß es sieben Kontinente gibt, und keiner bis auf einen Teil von diesem gehorcht den heiligen Sprüchen.«
    »Du bist der Erbe«, sagte das verhutzelte Ding und drehte sich, ob durch Zufall oder in Absicht, bis es mir den Rücken zukehrte.
    Abermals pochte ich an den Kolben. »Und wer bist du?«
    »Ein Wesen ohne Eltern, das sein Leben in einem Blutbad verbringt.«
    »Oh, so einer bin ich auch gewesen! Wir sollten Freundschaft schließen, wir beide, kommen wir doch aus ähnlichen Verhältnissen.«
    »Du scherzt.«
    »Ganz und gar nicht. Du tust mir wirklich leid, und ich bin überzeugt, wir sind uns ähnlicher, als du glauben möchtest.«
    Die winzige Gestalt wandte sich wieder um, bis sie mir das Gesicht zukehrte. »Ich wünschte, ich könnte dir glauben, Autarch.«
    »Ich mein’s ernst. Niemand hat mir je vorgehalten, ein ehrlicher Mensch zu sein, und ich habe gar oft gelogen, wenn ich es für meinen Vorteil hielt, aber nun mein’ ich’s ernst. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, sag mir, wie.«
    »Brich das Glas!«
    Ich zögerte. »Stirbst du dann nicht?«
    »Ich habe nie gelebt. Ich werde zu denken aufhören. Brich das Glas!«
    »Aber du lebst ja.«
    »Ich wachse nicht, ich bewege mich nicht, ich spreche auf keinen Reiz an, außer Gedanken, die nicht als Reiz zählen. Ich bin nicht in der Lage, mich fortzupflanzen oder anderweitig zu vermehren. Brich das Glas!«
    »Wenn du wirklich nicht lebst, würde ich lieber Mittel ersinnen, dich zum Leben zu erwecken.«
    »So weit geht deine Brüderschaft. Als du hier in diesem Kerker lagst, Thecla, und der Knabe dir das Messer brachte, warum warst du da nicht nach mehr Leben bestrebt?«
    Ich war hochrot geworden im Gesicht und holte mit dem Ebenholzzepter aus, aber schlug nicht zu. »Ob lebendig oder tot, dumm bist du jedenfalls nicht. Thecla ist der jähzornigste Teil von mir.«
    »Hättest du mit ihrem Gedächtnis ihre Drüsen geerbt, wär’s mir gelungen.«
    »Und das weißt du. Wie kannst du soviel wissen, der du blind bist?«
    »Die Tätigkeit grober Gehirne läßt winzige Vibrationen entstehen, die das Wasser dieser Flasche in Bewegung versetzen. Ich höre deine Gedanken.«
    »Ich höre, wie ich merke, auch die deinen. Wie kann das sein, daß ich sie hören kann, aber keine anderen?«
    Während ich direkt in sein verzerrtes Gesicht blickte, worauf nun das letzte Sonnenlicht lag, das durch ein staubiges Fenster einfiel, wurde ich mir nicht schlüssig, ob er die Lippen überhaupt bewegte. »Du hörst dich – wie eh und je. Du kannst andere nicht hören, weil dein Verstand unablässig kreischt wie ein Säugling in seinem Körbchen. Aha, ich sehe, daran erinnerst du dich.«
    »Ich erinnere mich an eine ganz frühe Zeit, als ich fror und Hunger hatte. Ich lag auf dem Rücken, von

Weitere Kostenlose Bücher