Die Zitadelle des Autarchen
braunen Wänden eingeschlossen, und hörte mich schreien. Ja, ich muß noch ein Säugling gewesen sein. Noch zu jung zum Krabbeln. Du bist sehr gescheit. Woran denke ich jetzt?«
»Daß du mich unbewußt benutzt, deine Macht zu erproben – wie die Klaue. Es stimmt natürlich. Ich wurde deformiert und starb vor der Geburt. Seitdem liege ich hier in Schnaps verwahrt. Brich das Glas!«
»Ich möchte dich zuerst etwas fragen«, sagte ich.
»Bruder, es steht ein alter Mann mit einem Brief vor deiner Tür.«
Ich horchte. Nachdem ich nur seinen Worten in meinem Verstand gelauscht hatte, war es seltsam, nun wieder echte Geräusche zu hören – das Lied der schläfrigen Amseln auf den Türmen und das Klopfen an der Tür. Der Bote war der alte Rudesind, der mich zum Bilder-Zimmer des Hauses Absolut geführt hatte. Ich winkte ihn herein (zum Erstaunen der Wachtposten, glaube ich), denn ich wollte mit ihm sprechen und wußte, daß ich bei ihm nicht auf meine Würde pochen müßte.
»Hier war ich noch nie in all den Jahren«, sagte er. »Was kann ich für Euch tun, Autarch?«
»Wir sind bereits bedient, allein durch deinen Anblick. Du weißt, wer wir sind, nicht wahr? Du kennst uns von früheren Begegnungen.«
»Wenn ich Euer Gesicht nicht kennen würd’, Autarch, denn würd’ ich’s jetzt trotzdem ein paar dutzendmal kennen. So oft hat man’s mir beschrieben. Niemand spricht mehr von was andrem, scheint mir. Wie Ihr hier ordentlich ausstaffiert wurdet. Wie sie Euch hier und dort gesehn haben. Wie Ihr ausgesehn habt, und was Ihr zu ihnen gesagt habt. Es gibt keinen Koch, keinen einzigen, der Euch nicht oft ein Stück Gebäck zugesteckt hat. Sämtliche Soldaten haben Euch Geschichten erzählt. Schon ’ne Weile her, daß ich zuletzt einer Frau begegnet bin, die Euch nicht geküßt oder ein Loch in Eurem Hosenboden geflickt hat. Ihr habt ’nen Hund gehabt …«
»Das stimmt«, sagte ich. »Einen Hund hatten wir.«
»Und ’ne Katze und ’nen Vogel und ein Coti, das Äpfel klaute. Und Ihr seid auf alle Mauern geklettert. Und dann runtergesprungen oder aber am Seil runtergeschwungen. Oder Ihr habt Euch versteckt und so getan, als wärt Ihr gesprungen. Ihr seid jeder Junge gewesen, den’s hier je gegeben hat, und ich hab’ Geschichten über Euch gehört, die zu Männern gehören, die schon Greise waren, da war ich noch ein Kind, und ich hab’ von Dingen gehört, die hab’ ich selber getan, vor siebzig Jahren.«
»Wir haben schon gelernt, daß das Gesicht des Autarchen stets hinter der Maske verborgen ist, die ihm das Volk aufsetzt. Gewiß ist das gut so; es zügelt den Stolz, sobald man wirklich erkennt, wie sehr man sich von dem unterscheidet, vor dem sie sich verbeugen. Aber wir wollen von dir hören. Der alte Autarch sagte uns, du seist sein Wächter im Haus Absolut, und nun wissen wir, daß du ein Diener von Vater Inire bist.«
»Bin ich«, antwortete der Greis. »Ich habe diese Ehre, und es ist sein Brief, den ich überbringe.« Er hielt einen kleinen, etwas schmutzigen Umschlag hoch.
»Und wir sind Vater Inires Herr.«
Er verneigte sich bäuerisch. »Ich weiß, Autarch.«
»Dann befehlen wir dir, Platz zu nehmen und auszuruhn. Wir haben ein paar Fragen und sehen es nicht gern, wenn ein Mann deines Alters stehen muß. Als wir dieser Knabe waren, der nun, wie du sagst, in aller Munde ist, oder wenigstens nicht viel älter, wurden wir von dir in Meister Ultans Magazin gewiesen. Warum hast du das getan?«
»Nicht weil ich was wußte, was andre nicht ahnten. Auch nicht weil’s mein Herr aufgetragen hat, wenn’s das ist, was Ihr meint. Wollt Ihr den Brief nicht lesen?«
»Gleich, nach einer ehrlichen Antwort in ein paar Sätzen.«
Der alte Mann senkte das Haupt und zupfte an seinem dünnen Bart. Die trockene Haut seines Gesichts folgte dem Zug der weißen Haare in hohlwangigen Kegeln. »Autarch, Ihr meint, ich habe was geahnt, damals. Vielleicht haben andre was geahnt, vielleicht mein Herr, ich aber nicht.« Seine feuchten Augen rollten nach oben, um einen Blick auf mich zu werfen, und senkten sich dann wieder. »Du warst jung, ein vielversprechender Jüngling, und ich wollte, daß du siehst …«
»Was?«
»Ich bin ein alter Mann. War damals einer, ein alter Mann, und bin’s heute. Ihr seid inzwischen erwachsen geworden, wie man sieht. Ich bin kaum älter, denn so viel Zeit bedeutet für mich nichts. Zählt man die ganze Zeit zusammen, die es mich gekostet hat, meine Leiter hinaufund hinabzusteigen,
Weitere Kostenlose Bücher