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Die Zitadelle des Autarchen

Die Zitadelle des Autarchen

Titel: Die Zitadelle des Autarchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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wächst, wohin kein Licht dringt.«
    Ich erwiderte: »Ich habe zwar nie die Schriften der Eingeweihten studiert, weiß aber, daß es in jedem Gut und Böse gibt.«
    »Sprach ich von Gut und Böse? Die Wurzeln sind’s, die der Pflanze die Kraft geben, der Sonne zuzustreben, obschon sie nichts von ihr wissen. Stell dir vor, wie eine Sense über den Boden fährt und den Stengel von den Wurzeln trennt. Der Stengel fällt und stirbt, aber die Wurzeln treiben einen neuen Stiel.«
    »Ihr meint, das sei Gut und Böse.«
    »Nein, ich meine, was wir in anderen lieben und an uns selbst bewundern stammt von Dingen, die wir nicht sehen und nur selten bedenken. Gundulf hatte wie andere Männer den Drang, die Gewalt in Händen zu haben. Der rechtmäßige Auswuchs davon ist die Gründung einer Familie – auch Frauen haben einen solchen Trieb. Bei Gundulf war dieser Trieb lange gehemmt – wie bei so vielen Soldaten, die wir hier sehen. Die Offiziere haben ihre Macht, aber die Soldaten ohne Machtbefugnis leiden, ohne zu wissen, warum sie leiden. Manche knüpfen natürlich Bande mit anderen aus ihren Rängen. Manchmal teilen sich mehrere eine Frau oder auch einen Mann, der wie eine Frau ist. Manche halten sich zahme Tiere, und wieder andere befreunden sich mit Kindern, die der Krieg zu Waisen gemacht hat.«
    An Casdoes Sohn denkend, sagte ich: »Ich verstehe, warum Ihr Euch dagegen wendet …«
    »Wir haben nichts einzuwenden – dagegen gewiß nichts, und auch nicht gegen viel weniger Natürliches. Ich rede nur vom Drang, Macht in Händen zu haben. Im schlechten Onkel löste er die Liebe zu einer Frau aus, insbesondere zu einer Frau mit Kind, so daß er eine größere Familie hätte, sobald er überhaupt eine hätte. Auf diese Weise hätte er, wie man sieht, einen Teil der verlorenen Zeit wettgemacht.«
    Ich nickte.
    »Es war jedoch schon zuviel Zeit verloren; der Instinkt brach anderweitig durch. Er sah sich als rechtmäßigen Herrn der Besitztümer, die er nur für einen Bruder verwaltete, und als den Herrn über das Leben des anderen. Welch ein Wahn!«
    »Gewiß.«
    »Gar mancher hat einen, wenn auch nicht so folgeschweren Wahn.« Sie lächelte mich an. »Glaubst du, du habest eine besondere Macht in Händen?«
    »Ich bin Geselle des Ordens der Wahrheitssucher und Büßer, aber dieser Rang bringt keine Macht mit sich. Wir von der Zunft tun bloß den Willen der Richter.«
    »Ich hielt die Zunft der Folterer für längst abgeschafft. Ist daraus denn eine eigene Bruderschaft für Liktoren geworden?«
    »Es gibt sie noch«, erklärte ich ihr.
    »Gewiß, aber vor ein paar Jahrhunderten war sie noch eine echte Zunft wie die der Silberschmiede. Zumindest habe ich so etwas in bestimmten Geschichtsbüchern, die in unserm Orden erhaltenen geblieben sind, gelesen.«
    Dies zu hören erfüllte mich mit stolzer Freude. Nicht weil sie damit wohl irgendwie recht hatte. Ich bin in mancherlei Hinsicht vielleicht verrückt, weiß aber, in welcher Hinsicht, und solche Selbsttäuschungen fallen nicht darunter. Nichtsdestoweniger war mir – wenn auch nur für diesen Moment – wunderbar zumute, in einer Welt zu leben, wo ein solcher Glaube möglich war. Nun erkannte ich wirklich zum ersten Mal, daß es in unserer Republik Millionen Menschen gab, die nichts wußten von den höheren Formen des Strafvollzugs und der Spirale von Intrigen, die den Autarchen einkreiste. Das war Wein für mich, oder vielmehr Schnaps, und machte mich trunken vor Freude.
    Die Pelerine, die nichts von alledem bemerkte, fragte: »Gibt es nicht noch eine andere, besondere Macht, die du deiner Meinung nach besitzt?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Miles erzählte mir, daß du dich im Besitz der Klaue des Schlichters wähnst und ihm eine kleine schwarze Klaue zeigtest, wie sie vielleicht von einem Ozelot oder Caracara stammen könnte. Du hättest behauptet, sagte er, damit viele von den Toten erweckt zu haben.«
    Nun war die Zeit gekommen; nun müßte ich sie hergeben. Seitdem ich im Lazarett war, wußte ich, daß sie bald käme, hatte aber gehofft, sie bis zu meinem Aufbruch hinausschieben zu können. Nun holte ich zum letzten Mal, wie ich dachte, die Klaue hervor und drückte sie der Pelerine in die Hand mit den Worten: »Damit könnt Ihr viele retten. Ich habe sie nicht gestohlen und war stets bestrebt, sie wieder Eurem Orden zukommen zu lassen.«
    »Und damit«, fragte sie sachte, »hast du viele von den Toten erweckt?«
    »Ich wäre ohne sie vor ein paar Monaten selber

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