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Die Zitadelle des Autarchen

Die Zitadelle des Autarchen

Titel: Die Zitadelle des Autarchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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hab’ Thecla gehört. Sie sei tot, hat man mir erzählt. Sind hier Stimmen aus dem Reich der Toten?«
    »Nicht mehr«, versicherte ich. »Du bist krank gewesen und wirst bald wieder gesund sein.«
    Ich hielt die Klaue über den Kopf und versuchte, meine Gedanken auf Melito, Foila und Emilian – auf alle Kranken im Lazarett – zu konzentrieren. Sie funkelte ein letztes Mal und wurde finster.
     

 
Melitos Geschichte:
Der Hahn, der Engel und der Adler
     
    Vor nicht allzu langer Zeit und nicht allzu weit entfernt von meiner Heimat gab es einen Bauernhof. Er wurde besonders wegen seines Federviehs gerühmt: Enten, weiß wie Schnee; Gänse, fast so groß wie Schwäne und so fett, daß sie kaum gehen konnten, und Hühner, bunt wie Papageien. Der Bauer, der dieses Gehöft aufgebaut hatte, betrieb eine recht verschrobene Viehhaltung, war aber mit seinen schrulligen Ansichten viel erfolgreicher als seine Nachbarn mit ihren vernünftigen, so daß keiner sich ihm sagen traute, was für ein Narr er sei.
    Sonderbar waren zum Beispiel seine Anschauungen in der Kükenzucht. Jeder weiß, wenn sich ein Küken als Hahn entpuppt, muß es verschnitten werden. Man braucht nur einen Hahn auf dem Hühnerhof, und hält man zwei, käm’s nur zu Kämpfen.
    Aber dieser Bauer ersparte sich die Mühe des Kapaunens. ›Sollen sie groß werden‹, sagte er. ›Sollen sie kämpfen, denn das laß dir gesagt sein, Nachbar: Der beste, keckste Hahn wird gewinnen, und er ist der Richtige, viele neue Küken zu zeugen. Vor allem werden seine Küken die zähesten und widerstandsfähigsten gegen alle Krankheiten sein – wenn deine Küken eingehen, kannst du zu mir kommen, und ich verkaufe dir zum Aufstocken ein paar zu meinem Preis. Was die unterlegenen Hähne angeht, so wandern sie auf unseren Tisch. Es ist kein Kapaun so zart wie ein im Kampf umgekommener Hahn, wie auch das beste Fleisch der Stier abgibt, der in der Arena das Leben gelassen hat, und das beste Wildbret von einem Reh stammt, das den ganzen Tag von der Meute gehetzt worden ist. Obendrein schwächt Kapaunfleisch die männliche Vitalität.‹
    Dieser verschrobene Bauer sah es auch als seine Pflicht an, das schlechteste Federvieh auszusuchen, wenn er Geflügel zur Speise wünschte. ›Es ist ruchlos‹ sagte er, ›die besten Stücke zu nehmen. Diese sollte man gedeihen lassen unter den Augen des Pancreators, der Hahn und Huhn wie Mann und Frau schuf.‹ Es war aus diesem Grunde sein Federvieh zuweilen so gut, daß es darunter offenbar keine schlechten Stücke gab.
    Nun kann man sich denken, daß der Hahn seines Hofes ein besonders guter war. Jung war er, stark und tapfer. Sein Schwanz war so prächtig wie der Sterz vieler Fasane, und zweifelsohne wäre auch sein Kamm überaus prächtig gewesen, wäre er nicht in den vielen verzweifelten Kämpfen, womit er sich seine Stellung errang, in Streifen gerissen worden. Seine Brust war leuchtend rot – wie das Gewand der Pelerinen hier –, jedoch sagten die Gänse, sie sei weiß gewesen und bloß mit seinem Blut gefärbt. Seine Flügel waren so kräftig, daß er besser fliegen konnte als die weißen Enten, sein Sporn war länger als der Mittelfinger eines Mannes, und sein Schnabel war scharf wie mein Schwert.
    Dieser prächtige Hahn hatte tausend Hühner zum Weib, aber seine Herzallerliebste war eine Henne, prächtig wie er selbst, Tochter einer edlen Rasse und unbestrittene Königin aller Hühner im Umkreis vieler Meilen. Wie stolz wallten sie zwischen Stall und Ententeich! Man könnte sich keinen prächtigeren Anblick vorstellen, nein, nicht einmal wenn der Autarch höchsteigen mit seiner Lieblingsfrau am Orchideenborn promenierte – insbesondere da der Autarch freilich ein Kapaun ist, wie man hört.
    So lebte es in höchstem Glück, dieses Paar, bis eines Nachts der Hahn von einem schrecklichen Krawall geweckt wurde. Eine große Eule war in den Stall eingedrungen, wo das Federvieh auf den Stangen geruht hatte, und flatterte herum auf der Suche nach ihrem Nachtmahl. Natürlich stieß sie auf die Henne nieder, welche dem Hahn besonders teuer war, erfaßte sie mit den Klauen und breitete stumm die weiten Schwingen aus, um mit ihr fortzufliegen. Eulen können im Dunkeln ausgezeichnet sehen, also sah sie wohl, wie der Hahn sich gleich einem gefiederten Ungeheuer auf sie stürzte. Wer hat je einen Ausdruck des Erstaunens im Gesicht einer Eule gesehen? Es mußte in jener Nacht die Miene dieser Eule eine höchst verdutzte gewesen sein. Die Sporen

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