Die Zitadelle des Autarchen
beisammensitzen. Es wird erst abgenommen, wenn kein lebender Mann sich mehr an den so Geehrten erinnern kann. Eine solche Haut wurde für Anskar vorbereitet, und die Maler machten sich ans Werk.
Eines schönen Tages dann, als mein Vater und ich – wie gut ich mich daran erinnere! – die Werkzeuge herrichteten, die wir brauchten, um den Boden für die neue Ernte zu pflügen, kamen ein paar Kinder, die zum Sammeln von Vogeleiern geschickt worden waren, ins Dorf gelaufen. Eine Robbe, berichteten sie, liege auf dem Strand der Südbucht. Wie jeder weiß, kommt keine Robbe an Land, wenn Menschen in der Nähe sind. Zuweilen aber kommt es vor, daß eine Robbe im Meer stirbt oder irgendwie verletzt wird. Mit solchen Gedanken liefen mein Vater und ich neben vielen anderen zum Strand, denn die Robbe würde dem ersten, der sie mit seiner Waffe durchbohrte, gehören.
Ich war der schnellste von allen und hatte mich mit einer Forke bewaffnet. So etwas läßt sich nicht gut werfen, aber weil mir andere Jünglinge dicht auf den Fersen waren, warf ich sie dennoch. Sie flog gerade und zielstrebig und bohrte ihre Zinken in den Rücken der Beute. Dann folgte ein Augenblick, wie ich ihn hoffentlich nie wieder erleben muß. Durch die Wucht des langen Forkenstiels rollte sie herum, bis der Stiel auf dem Boden lag.
Ich sah das Gesicht meines Onkels Anskar, das im kalten Meer erhalten geblieben war. Sein Bart war mit grünem Riementang verfilzt, und seine Sicherheitsleine aus fester Walroßhaut war wenige Spannen vor seinem Bauch abgetrennt worden.
Mein Onkel Gundulf sah ihn nicht, denn er war zur großen Insel gefahren. Mein Vater hob Anskar auf, wobei ich ihm half, und wir trugen ihn in Gundulfs Haus und legten das Seilende auf seine Brust, so daß Gundulf es sähe, woraufhin wir uns niedersetzten und auf ihn warteten.
Er schrie auf, als er seinen Bruder erblickte. Es war kein Schrei, wie eine Frau ihn ausstößt, sondern ein Brüllen gleich dem eines Robbenbullen, der die anderen Bullen von seiner Herde vertreibt. Er lief in die Dunkelheit hinaus. Wir stellten an den Booten eine Wache auf und jagten ihn in jener Nacht über die Insel. Die Lichter, welche die Geister im äußersten Süden am Himmel entfachen, leuchteten die ganze Nacht, wodurch wir wußten, daß Anskar mit uns jagte. Als sie vor dem Erlöschen am hellsten aufflammten, fanden wir ihn in den Felsen der Radbodspitze.«
Hallvard schwieg. Schweigen herrschte überall um uns herum. Alle Kranken in Hörweite lauschten ihm. Melito sagte schließlich: »Habt ihr ihn umgebracht?«
»Nein. Früher war das so, leider. Nun verbietet das Gesetz des Festlands Blutrache, was besser ist. Wir banden ihm Arme und Beine und legten ihn in sein Haus. Ich saß bei ihm, während die anderen Männer die Boote klarmachten. Er erzählte mir, er habe eine Frau auf der großen Insel geliebt. Ich bekam sie nie zu Gesicht, aber er sagte, sie heiße Nennoc und sei hübsch und jünger als er, dennoch wolle sie keiner zum Weib, weil sie ein Kind habe von einem Mann, der im letzten Winter gestorben sei. Im Boot hatte er Anskar erzählt, er wolle Nennoc als Braut heimführen, woraufhin Anskar ihn einen Wortbrecher schalt. Mein Onkel Gundulf war stark. Er packte Anskar und warf ihn über Bord, schlang die Sicherheitsleine um die Hände und riß sie entzwei, wie eine Frau beim Nähen ihren Faden trennt.
Er habe, wie er sagte, mit einer Hand am Mast gestanden, wie Männer das tun, und seinen Bruder im Wasser beobachtet. Zwar habe er das aufblitzende Messer gesehen, aber lediglich geglaubt, Anskar wolle ihm damit drohen oder damit nach ihm werfen.«
Wieder verstummte Hallvard, und als ich sah, daß er nicht weitersprechen wollte, sagte ich: »Ich versteh’ nicht ganz. Was hat Anskar getan?«
Ein Lächeln, das allerkleinste Lächeln huschte über Hallvards Lippen unter dem blonden Schnurrbart. Als ich das sah, war mir, als hätte ich die blauen bitterkalten Eisinseln des fernsten Südens gesehen. »Er durch trennte seine Sicherheitsleine, das Seil, das Gundulf bereits entzweigerissen hatte. Somit würde man, fände man ihn, wissen, daß er ermordet worden sei. Verstanden?«
Ich verstand und blieb eine Weile stumm.
»Also«, raunte Melito Foila zu, »ging das wunderschöne Land im Tal an Hallvards Vater. Mit dieser Geschichte hat er dir vor Augen führen können, daß er, obgleich jetzt besitzlos, gute Aussichten habe, etwas zu erben. Er hat dir natürlich auch vor Augen geführt, daß er aus einer
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