Die Zitadelle des Autarchen
eine jener Graugänse, die von Pol zu Pol ziehen. Freilich flog sie nicht davon, sondern verwahrte die Engelseigenschaft sicher.
›Der dritte davon ist‹, fuhr der Hahn verzweifelt fort, ›daß du eindeutig ein Offizier im Dienste des Pancreators bist und als Anwalt der Gerechtigkeit deine Pflicht tust. Würde ich gegen dich kämpfen, wie du forderst, versündigte ich mich gegen den einzigen Herrn, den brave Hühner anerkennen.‹
›Nun gut‹, erwiderte der Engel. ›Du hast deinen Standpunkt dargelegt und hoffst wohl, dir damit den Freispruch erkämpft zu haben. In Wahrheit hast du damit das eigene Todesurteil gefällt. Ich wollte dir nur die Flügel ein bißchen zurückbiegen und die Schwanzfedern ausreißen.‹ Sodann hob er das Haupt und stieß einen schauerlichen Schrei aus. Sofort kam ein Adler vom Himmel geschossen und fuhr wie ein Blitz in den Hühnerhof.
Sie kämpften an der Scheune, neben dem Ententeich und kreuz und quer auf der Weide, denn der Adler war sehr stark, der Hahn aber flink und tapfer. Es lehnte ein alter Karren mit einem gebrochenen Rad an einer Scheunenwand, worunter der Hahn letzte Zuflucht suchte, konnte ihn dort der Adler doch nicht aus der Luft angreifen und er ein wenig rasten. Er blutete indes so stark, daß er, ehe der Adler, der ebenfalls blutüberströmt war, angreifen konnte, getaumelt und gestürzt war, aufzustehen versuchte und abermals stürzte.
›Nun‹, wandte sich der Engel an die versammelte Vogelschar, ›wurde der Gerechtigkeit Genüge getan. Seid nicht stolz! Prahlt nicht, denn ihr werdet für euren Hochmut büßen. Ihr hieltet euren Kämpfer für unbesiegbar. Dort liegt er nun, Opfer seines Stolzes, nicht dieses Adlers, geschlagen und vernichtet.‹
Hierauf hob der Hahn, den alle tot wähnten, das Haupt. ›Du bist zweifellos sehr klug, Engel‹, sagte er. ›Aber du weißt nichts über das Hahnenleben. Der Hahn ist erst geschlagen, wenn er den Schwanz umkehrt und die weiße Feder zeigt, die unter seinen Schwanzfedern liegt. Meine Kraft, die ich mir durch Fliegen und Laufen und in vielen Schlachten erworben, hat mich verlassen. Mein Geist, den ich aus der Hand deines Herrn, des Pancreators, empfangen, hat mich nicht verlassen. Adler, ich flehe nicht um Gnade. Komm und töte mich nun! Aber wenn dir an deiner Ehre liegt, sag nie, du habest mich geschlagen!‹
Der Adler blickte zum Engel, als er hörte, was der Hahn sprach, und der Engel blickte zum Adler. ›Der Pancreator ist unendlich fern von uns‹, sagte der Engel. ›Und also unendlich fern von mir, obgleich ich so viel höher als ihr fliege. Ich errate seinen Willen – dem sich keiner entziehen kann.‹
Er öffnete abermals die Brust und legte die Gabe zurück, die er kurzzeitig abgetreten hatte. Dann flog er mit dem Adler fort, und die Graugans folgte ihnen eine Weile. Das ist das Ende der Geschichte.«
Melito hatte, während er erzählte, auf dem Rücken gelegen und empor zum ausgespannten Zeltdach geblickt. Ich hatte das Gefühl, er wäre zu schwach, sich ohne Hilfe auf den Ellbogen aufzustützen. Die übrigen Verwundeten waren so still gewesen wie bei Hallvards Geschichte.
Schließlich sagte ich: »Das war eine schöne Geschichte. Es wird mir nicht leichtfallen, mich für eine davon zu entscheiden, und wenn’s euch allen, dir, Hallvard und Foila recht ist, möcht’ ich mir noch etwas Zeit lassen und über beide nachdenken.«
Foila, die sich aufgesetzt und die Beine angezogen hatte, so daß ihr Kinn auf den Knien ruhte, meinte: »Entscheide dich noch nicht! Der Wettbewerb ist noch nicht vorüber.«
Alle Blicke kehrten sich ihr zu.
»Ich erklär’s morgen«, sagte sie. »Entscheide dich noch nicht, Severian. Wie hat diese Geschichte übrigens gefallen?«
Hallvard knurrte: »Ich will dir sagen, was ich davon halte. Ich glaube, Melito ist verschlagen, wie er es von mir behauptet hat. Er ist nicht so gesund wie ich und nicht so stark und hat auf diese Weise das Mitgefühl einer Dame erweckt. Klug gemacht, kleiner Hahn.«
Melitos Stimme wirkte schwächer als beim Erzählen der Vogelschlacht. »Es ist die schlechteste Geschichte, die ich kenne.«
»Die schlechteste?« fragte ich. Wir waren alle überrascht.
»Ja, die schlechteste. Es ist eine törichte Geschichte, die wir unsern Kindern erzählen, die nichts anderes kennen als Staub und Haustiere und den Himmel, den sie über sich sehen. Sicherlich verdeutlicht das jedes einzelne Wort davon.«
Hallvard fragte: »Willst du nicht gewinnen,
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